Das Völkerschlacht-Wetter 1813 Das Jahr ohne Sommer Schnee im Libanon Der extreme Januar 1709 Der miserable Sommer 1980
Napoleon und das Wetter 1812
Napoleon und das Wetter 1812
Briefmarke Briefmarke aus Weißrussland aus dem Jahr 2012 zum Gedenken der Ereignisse von 1812. Die Briefmarke ist aber im Original nicht ganz so groß: 37 x 25 mm...

Die Urfassung dieser Seite wurde 2004 veröffentlicht und hat mittlerweile zwei Updates erhalten: 2012 ein sehr umfassendes und 2018 ein nicht so großes, aber doch sehr wichtiges!

UPDATE 2012: 2012 war es mir endlich möglich, das lange geplante Update zu diesem Thema zu erstellen – pünktlich zum 200jährigen Jubiläum des Ereignisses. Wobei "Jubiläum" eigentlich das falsche Wort dafür ist, denn bei einem Feldzug, der schätzungsweise 1 Million Menschen das Leben kostete [7], gibt es nichts zu feiern, auch nicht 200 Jahre später. Aber zu erinnern: erst bei der intensiven Beschäftigung mit dem Thema, speziell zu dieser Aktualisierung, wurde mir so richtig bewusst, welch ungeheure menschliche Katastrophe sich damals abspielte – und wie wenig das nachfolgende 20. Jahrhundert daraus gelernt hatte!

Mit diesem Update wurde die Seite wesentlich erweitert; tatsächlich besteht sie nun aus fünf Seiten, der Hauptseite (diese hier), auf der der Gang der Ereignisse skizziert und ein Überblick über die damalige Wettersituation gegeben wird, und den Seiten für die Monate April, Juni, November und Dezember, eine Seite pro Monat: auf jeder dieser Monatsseiten wird recht umfassend das Wetter 1812 analysiert, und zwar sowohl europaweit (nur so kann man das Wettergeschehen "vor Ort" richtig einordnen) als auch für das Gebiet des Feldzugs. Diese vier Monate sind die für den Feldzug bedeutendsten, jedenfalls was das Wetter betrifft: der April, also eigentlich noch "Aufmarschzeit", weil hier schon sich eine für Napoleon sehr ungünstige Entwicklung anbahnte, der Juni, weil gerade die Gewitterunwetter in den ersten zwei Feldzugswochen verheerende Auswirkungen auf die napoleonischen Truppen hatten, der November - ganz klar - wegen des berühmten Beresina-Übergangs und abschließend der Dezember wegen der mörderischen Kälte jenes Monats, die den Resten der napoleonischen Armee ein eiskaltes Grab schaufelte. (Der Wetterverlauf von Juli - Oktober wird hier auf der Hauptseite natürlich auch behandelt.)

Nachfolgend die Links zu den Monatsseiten: bei Anklicken wird die gewählte Seite in einem Extra-Tab des Browsers (oder einem neuen Fenster, hängt vom Browser ab) geöffnet, so dass man im Prinzip alle Monate sich parallel betrachten bzw. zwischen ihnen hin- und herschalten kann. Auf der Hauptseite wird des Öfteren auf die Monatsseiten verwiesen – dann immer mit unterlegtem Link, so dass man die zitierte Seite sofort aufrufen kann (ebenfalls in einem neuen Tab). Und am Ende der Hauptseite sind die Monatsseiten-Links nochmals gesammelt aufgelistet. Hier nun die Links:

April 1812    Juni 1812    November 1812    Dezember 1812   

Update 2018: Mittlerweile stehen mir auch die Monatstemperaturen aus Moskau bis (einschließlich) August 1812 sowie die täglichen Temperaturen in Wilna (für das gesamte Jahr 1812) zur Verfügung. Das ist natürlich ein enormer Fortschritt! Dazu kommen noch die täglichen Wetterdaten von Danzig, was hilfreich für die korrekte Klassifikation der jeweils herrschenden Großwetterlagen ist. Diese Daten sind nun im Text berücksichtigt und mehrere neue Diagramme dazu wurden eingefügt. Auch einige der alten Diagramme/Karten wurden durch neuere, verbesserte Versionen ersetzt, etliche andere dafür entfernt. Und die Juni-Seite umfasst jetzt auch im "Wettertagebuch" die Ereignisse bis zum 10. Juli sowie Wetterdaten für den gesamten Juli.

(Hinweise auf Literaturzitate/Online-Quellen stehen in den Texten in eckigen Klammern, Hinweise auf Anmerkungen in runden Klammern, beides am Ende der Artikel zu finden – das gleiche gilt auch für diese Seite.)



Napoleon und das Wetter 1812

Die Jahre 1812 - 1815 waren entscheidend für das Schicksal Napoleons: in drei Jahren verlor er durch drei für ihn katastrophal verlaufende Feldzüge alles, was er sich in den 15 Jahren davor zusammenerobert hatte. Und bei jedem dieser Feldzüge spielte das Wetter eine wesentliche Rolle, vor allem aber bei seinem Russland-Feldzug 1812!

Napoleons Invasion Russlands im Jahre 1812 ist wohl das berühmteste Beispiel eines Feldzuges, der nicht durch Schlachten, sondern durch Land und Wetter entschieden wurde. Die sich in den russischen Weiten tot laufende Invasionsarmee, die schließlich vom hereinbrechenden harten Winter in die Knie gezwungen wird – das ist das „klassische“ überlieferte Bild dieses Krieges. Ist so auch keineswegs falsch beschrieben, aber eben nur ein Teil der Wahrheit, genauer gesagt nur ein Viertel davon. Man kann die Katastrophe der napoleonischen Truppen nämlich einigermaßen sicher in Zahlen ausdrücken: als die Armee Mitte September 1812 Moskau erreichte, hatte sie in den zurückliegenden drei Monaten schon rund 75% ihrer ursprünglichen Gesamtstärke verloren! Ein enormer Schwund, und dies alles im russischen Sommer – der Rückzug im einbrechenden Winter gab einer schon stark reduzierten Armee dann nur noch den Rest [1, 2, 3].

Auf den ersten Blick verwundert es schon, dass ausgerechnet der Sommer 1812 so mörderisch gewesen sein soll; die Temperatur-Anomalie-Diagramme für diesen Sommer zeigen zwar einen in West- und Mitteleuropa meist zu kühlen , in Osteuropa und speziell Russland (St. Petersburg) aber einen moderat zu warmen Sommer. Insgesamt nichts wirklich Auffälliges. Wie wir sehen werden, sieht es jedoch bei Betrachtung der Tagesreihen schon etwas anders aus (und liefert damit wieder ein gutes Beispiel, wie überaus nützlich solche Reihen auch für Historiker sein können). Glücklicherweise gibt es für St. Petersburg seit 1753 tägliche Temperaturdaten, wenn auch für die Mehrzahl der Jahre nur Tagesmittelwerte [4]. Die Moskauer Reihe (Monatsmittelwerte) ist für 1812 bis August vorhanden [14], bricht dann aber, wohl kriegsbedingt, ab. Für Wilna liegen für 1812 aber die Tagesmittelwerte der Temperatur vor, die sich ebenfalls noch als sehr hilfreich erweisen werden [13]. Die nachfolgenden zwei Abbildungen stelle ich der chronologischen Schilderung des Feldzugs voran, denn sowohl die Landkarte mit dem Feldzugsverlauf wie das Temperaturdiagramm Wilnas wird man im folgenden (und auch auf den Extra-Seiten für die Monate) immer wieder benötigen.

Wetterkarte Marschroute der napoleonischen Armee vom 23. Juni bis 13. Dezember 1812

Obenstehende Abb. 1 zeigt die Marschroute der napoleonischen Armee vom 23. Juni bis 13. Dezember 1812 und die nachfolgende Abb. 2 die täglichen Höchst- und Tiefsttemperaturen in Wilna von Juni - Dezember sowie im unteren Teil des Diagramms die Entfernung (Luftlinie) von Napoleons Stab von Wilna. Damit hat man einen groben Maßstab zur Verfügung, um beurteilen zu können, wie relevant die Wilnaer Temperaturen zu jedem Zeitpunkt des Feldzugs waren: je weiter entfernt die Truppe von Wilna war, umso schlechter "passen" die Temperaturen in Wilna zu denen "vor Ort" (der Truppe). Aber natürlich auch umgekehrt: zu den für den Feldzug so wichtigen Perioden Ende Juni - Mitte Juli sowie die Zeit ab Mitte November ist das napoleonische Heer so nahe bei Wilna, dass man die dortigen Temperaturen als gut passend annehmen kann. Wer genau hinsieht, bemerkt, dass in der Wilna-Temperaturkurve in jedem Monat immer der 15. eine Lücke aufweist: Das in der Quellenangabe im Diagramm erwähnte Buch [13] liegt mir natürlich nur als Scan vor. Die dortigen Tabellen sind immer zweiseitig, somit liegt in der Falz in der Mitte immer der 15. Aber will man den Buchrücken nicht brechen, kann man das Buch beim Scannen ja nicht ganz fest andrücken - und so blieb der 15. leider durchgehend unsichtbar. Aber den Ausfall von somit insgesamt sieben Tagen kann man wohl verkraften ... Überliefert sind tatsächlich nur die täglichen Temperaturmittelwerte aus Wilna, aber mit Hilfe statistischer Analyse (unter Benutzung der bekannten täglichen Tmax-, Tmin- und Tmittelwerte des 20. Jhrh. aus Wilna) lassen sich daraus die wahrscheinlichsten täglichen Höchst- und Tiefsttemperaturen herleiten - diese wurden für das Diagramm verwendet.

Karte1 Tägliche Temperaturen für Wilna, Juni - Dezember 1812

Ende Juni 1812 hatte Napoleon in Ostpreußen eine für jene Zeit gigantische Armee von 400 - 500000 Mann für die Invasion Russlands zusammengezogen – aber nicht nur Franzosen (nur etwa 1/3), sondern auch viele Deutsche, Polen, Italiener usw., eine multinationale Truppe also. Am 23. 6. begann dann die Invasion mit der Überschreitung des Njemen, nicht weit von Tilsit entfernt, wo sich Zar Alexander und Napoleon nur fünf Jahre zuvor ewige Freundschaft geschworen hatten. Der rein geographische Verlauf des Feldzugs ist in Abb. 1 dargestellt. Ursprünglich hatte Napoleon nicht unbedingt vor, bis nach Moskau zu ziehen – vielmehr ging es ihm hauptsächlich darum, die russische Armee zu einer großen, kriegsentscheidenden Schlacht zu stellen und dann zu vernichten. Aber die russischen Generäle verweigerten diese erstmals, und so drang Napoleon, in Verfolgung der gegnerischen Armee und auf der Suche nach der entscheidenden Schlacht, immer tiefer nach Russland ein. Bei Borodino, am 7. September, bekam er sie dann, seine „große“ Schlacht. Ein fürwahr blutiger Tag, ein grauenhaftes Gemetzel, aber kein kriegsentscheidendes! (2) Und so rückte er weiter vor, marschierte Mitte September dann praktisch kampflos in Moskau ein. Alexander lieferte ihm seine Hauptstadt aus, ohne sich erneut zum Kampf zu stellen. Aber um Frieden ersuchte er auch nicht – und kurz nach dem Einmarsch brannten große Teile Moskaus ab! Napoleon war nun ratlos – nach den „klassischen“ Regeln hatte er den Krieg gewonnen, aber der Feind ignorierte dies einfach. Ohne ausreichende Verpflegung, ohne feste Winterquartiere und angesichts der schon stark zusammen geschmolzenen Truppen wusste Napoleon keine andere Lösung mehr, als denselben Weg, den er gekommen war, wieder zurückzumarschieren – ein Rückzug im hereinbrechenden Winter, umgeben von Feinden, die eigenen Soldaten schlecht ernährt und ungenügend ausgerüstet. Die Katastrophe war damit vorgezeichnet und sie kam entsprechend: nur noch rund 10000 seiner Soldaten erreichten Mitte Dezember wieder den Njemen, wo sie weniger als sechs Monate vorher gestartet waren.

Soweit der kurze Überblick über den Verlauf eines Krieges, der nicht mit dem üblichen militärhistorischen Instrumentarium zu beschreiben ist. Die geschlagenen Schlachten waren für das Scheitern dieses Feldzugs fast ohne Bedeutung: so hatte Napoleon, als es (aus seiner Sicht) endlich zur Schlacht bei Borodino kam, schon rund 75 % seiner ursprünglichen Truppenstärke eingebüßt! Im nachfolgenden Bild 2 ist die Entwicklung der Truppenstärke der napoleonischen Armee für die verschiedenen Phasen des Feldzugs dargestellt; die Breite der schraffierten Fläche steht für die Anzahl der Soldaten auf dem Vormarsch nach Moskau, und die Breite der schwarzen Fläche dann entsprechend für die Truppenstärke auf dem Rückzug. Die angegebenen Zahlen bitte nur als In-etwa-Zahlen betrachten! (3)

Wetterkarte Entwicklung der napoleonischen Truppenstärke im Feldzug 1812


Was wirklich verblüfft, sind die hohen Verluste schon innerhalb der ersten vier Wochen. Und dies ohne größere Gefechte oder Schlachten. Typischerweise geht solch hoher Schwund auf das Konto von Seuchen, Hunger und Desertionen. Letzteres spielt sicher eine nicht ganz kleine Rolle, wenn man bedenkt, wie viele nicht-französische Soldaten in Napoleons Armee mitmarschierten, und viele davon nicht ganz freiwillig. (Geschätzte 50000 desertierten allein schon während den ersten Wochen des Feldzugs.) Aber nach allen vorliegenden zeitgenössischen Berichten sind Hunger und Seuchen die Hauptursachen. Hunger? War Napoleon etwa ohne ausreichenden Versorgungstross einmarschiert? Keineswegs. Napoleon war bekannt dafür, sich auch um kleinste Details, was Ausrüstung und Versorgung seiner Heere anging, zu kümmern. Und für diese – für ihre Zeit – wahrhaft riesige Armee musste ein entsprechend gigantischer Aufwand getrieben werden: so wurden z.B. allein 18000 Pferde zum Ziehen der 1300 Geschütze bereitgestellt, zwei Brückenbauzüge wurden mitgeführt, zudem hatte jedes Armeekorps noch eigene Pontons im Gepäck. Aber die wichtigste Aufgabe lag in der Verpflegung des Heeres, denn, wie Napoleon selbst erkannte, konnten über 400000 Mann nicht vom Lande, durch das sie (als Eindringlinge!) zogen, ernährt werden. Deshalb traf Napoleon schon Mitte Januar Anordnungen zum Speichern von Lebensmitteln für 40000 Mann auf 50 Tage in Danzig und in den Oder- und Weichselstädten. Zwei große Transporte sollten Mehl und Zwieback nach Wilna bringen. Allein in Danzig wurden 300000 Zentner Mehl und zwei Millionen Zwiebackportionen aufgehäuft. So wurden Tausende von Wagen Mehl und Reis, gezogen von Ochsen, die man dann später zu schlachten gedachte, im Tross mitgeführt bzw. sollten den Nachschub gewährleisten.

Insgesamt betrug der Pferdebestand der Armee etwa 150000 Tiere; unmöglich konnte man auch für alle Pferde ausreichend Futter mitschleppen – man musste somit für den Feldzug solange warten, bis auf den Wiesen genügend grünes Futter wuchs. Und spätestens hier kommt nun das Wetter ins Spiel! Die beiden folgenden Diagramme (Bild 3) zeigen nun den täglichen Verlauf der Mitteltemperatur von April bis Dezember (rote Kurve) für St. Petersburg und – zum Vergleich – auch noch die über 30 Jahre gemittelten Temperaturen für jeden Tag dort (blaue Kurve); außerdem ist der Luftdruck für Stockholm noch eingezeichnet.

Der April und Mai in St. Petersburg fallen 1812 insgesamt zu kühl aus (rote Linie fast immer unterhalb der blauen), wobei der Mai eine recht große Wechselhaftigkeit zeigt: nach gutem Start wird es wieder ziemlich kalt (beinahe 0°C als Tagesmittel), zur Monatsmitte dann eine kurze Hitzewelle, gefolgt von kaltem Wetter bis zum Monatsende. Der im April und Mai meist hohe Luftdruck über Stockholm deutet darauf hin, dass oft kühle Luftmassen aus NO herangeführt wurden. So fielen auch in Berlin, Warschau und – hier besonders interessierend – in Wilna April und Mai zu kalt aus, in Wilna um 3,2 K (April) bzw. 1,6 K (Mai) [5]. Wohl nicht gerade das richtige Wetter, um saftige grüne Weiden zu erhalten (siehe APRIL-SEITE). Auch die erste Junihälfte fällt nicht unbedingt warm aus – Napoleon muss noch warten. Und so vergeht auch noch der größte Teil des Junis, bevor das Grasangebot auf den Wiesen endlich für die Riesenmenge an mitgeführten Pferden ausreichend erscheint. Wertvolle Zeit ist dadurch schon verloren, bevor der Feldzug überhaupt begonnen hat!

Wetterkarte
Wetterkarte Tagesmitteltemperaturen von St. Petersburg und Luftdruck in Stockholm für jeden Tag von April bis Dezember 1812 (April - August: oberes Diagramm, September - Dezember: unteres Diagramm; die dünne blaue Kurve zeigt für St. Petersburg zum Vergleich für jeden Tag das über 30 Jahre gemittelte Tagesmittel der Temperatur
Am 23. 6. gibt er schließlich den Einmarschbefehl. Unglücklicherweise kommt es aber (etwa) zwischen dem 24. und 29. Juni ziemlich oft zu kräftigen Gewittern verbunden mit Starkregenfällen – am 28./29. tobt über Wilna ein langanhaltendes und mit extremen Regenfällen verbundenes Gewitterunwetter, das verheerende Schäden in der Truppe anrichtet (siehe JUNI-SEITE). Sowohl die Petersburger Temperaturkurve als auch die von Wilna zeigen für diese Tage erst ziemlich warme Temperaturen, dann aber einen recht großen Temperaturrückgang. Bis Anfang Juli blieb es dann ziemlich kalt. Durch den Regen waren alle Wege morastig geworden; das Vorwärtskommen wurde zur Qual, die Soldaten dadurch rasch erschöpft. Die Ochsenkarren blieben stecken, ihre Zugtiere, schlecht gepflegt und ernährt, verendeten in Massen. Schon in diesen ersten Tagen starben über 10000 Pferde, vor Erschöpfung und weil sie zu viel nasses Grünfutter fressen mussten. Der Transportdienst auf den Straßen kam zum Erliegen, was zur Folge hatte, dass der Nachschub an Lebensmitteln für die Truppe völlig unzureichend war. Aus dem Umland war auch nichts zu holen, denn die Russen praktizierten bei ihrem Rückzug das Prinzip der „Verbrannten Erde“. So hielt schon nach wenigen Tagen der Hunger seinen Einzug in die napoleonische Armee.

Trotz aller umfänglichen Vorbereitung hatte Napoleon offensichtlich die Schwierigkeiten der Versorgung einer solch großen Armee in Feindesland unterschätzt. Ein schwerer Fehler auch, just in einer solchen Schlecht-Wetter-Phase mit der Invasion zu beginnen; vermutlich trieb ihn die Angst, noch mehr wertvolle Zeit zu verlieren, dazu. Die numerische Wettervorhersage lag noch in weiter Zukunft; er konnte daher nicht wissen, dass nur rund eine Woche später schönstes Sommerwetter Einzug halten sollte! Die St. Petersburger Reihe zeigt zwischen dem 4. und 11. 7. durchweg Tagesmitteltemperaturen über 20°C, am 6. 7. gar 26,3°C und am 8. 7. fast ebensoviel – was auf Tagesmaxima deutlich über 30°C schließen lässt! Einige hundert Kilometer südlicher, bei Napoleons Truppen, war es ähnlich heiß: die aus den Wilnaer Tagesmitteltemperaturen abgeleiteten Höchstwerte jener Woche lagen etwa zwischen 30 und 33°C; tatsächlich wird nun von großer Hitze mit Temperaturen weit über 30°C und endlos staubigen Straßen berichtet. Eine frische, gut genährte Truppe hätte das nicht weiter gestört (jedenfalls für die sieben Tage Dauer dieser ersten Hitzewelle), aber seine durch Hunger und Anstrengung bereits entkräftete Armee wurde dadurch sehr in Mitleidenschaft gezogen. Die Ernährung basierte fast ausschließlich nur noch auf Fleischnahrung, denn Brot und Hülsenfrüchte waren fast keine mehr verfügbar. Solche Mangelernährung bei gleichzeitig großen Marschstrapazen forderte ihren Tribut: im Schnitt starben täglich mehrere Tausend an Hunger und Erschöpfung. Zudem fanden die Pferde kein Heu mehr, verendeten in Massen und ihre Kadaver blieben an den Straßenrändern liegen und Verwesungsgestank verpestete bald die Luft. Als Folge dieser Zustände zog dann noch die Ruhr ein und raffte zusätzlich Tausende von Soldaten dahin. Und noch war keine einzige Schlacht geschlagen!

Zwischen dem 12. und 26. Juli war es allerdings nicht mehr so heiß – zumindest in St. Petersburg. Und auch die Juli-Monatsmitteltemperatur in Wilna ist nur geringfügig höher als im langjährigen Durchschnitt. Vom 27. Juli allerdings ist in den Feldzugberichten dann als einem sehr heißen Tag die Rede – das Tagesmittel in St. Petersburg ist 17,5°C für diesen Tag, was auf Maxima um 21 - 23°C schließen lässt. Weiter südlich muss es da schon erheblich heißer gewesen sein – jedenfalls soll Napoleon auf eine an diesem Tag mögliche Schlacht (die er ja eigentlich so dringend suchte!) verzichtet haben, um seine Soldaten nicht in der Gluthitze kämpfen zu lassen. Am nächsten Tag aber waren die Russen nicht mehr da, die Möglichkeit zur „entscheidenden Schlacht“ damit vergeben. Tatsächlich zeigen die Wilnaer Tagesdaten drei Tage mit Höchstwerten um die 30°C - das aber erst ab dem 28. Juli, der 27. war mit etwa 23°C noch moderat warm. Hier liegt also eine Ein-Tages-Diskrepanz zwischen den Feldzugberichten und den Temperaturmessdaten vor. Für die kommenden zwei Wochen allerdings wäre auch mit Russen wohl kaum eine Schlacht zu schlagen gewesen, denn eine der größten Hitzewellen, die der Nordwesten Russlands bis zum heutigen Tag je erlebt hat, nahm nun ihren Anfang! Eindrucksvoll ist dies in der Temperaturkurve von St. Petersburg zu erkennen; am 4. August wurde der höchste Wert mit einem Tagesmittel von sagenhaften 29°C erreicht – dies dürfte einer Höchsttemperatur im Bereich von 37 - 40°C entsprochen haben. Diese 29°C sind bis heute die höchste jemals in St. Petersburg gemessene Tagesmitteltemperatur! In Wilna hingegen war es nicht so heiß - es wurde "nur" ein Tagesmittel von 22,4°C gemessen (am 25. dann 23°C), woraus sich für Wilna Höchstwerte um die 30°C ableiten lassen. Aber Napoleons Heer war da ja schon rund 300 km östlicher, und je weiter man nach Osten schaut, umso heißer fiel der August aus (siehe folgende Tabelle): In Moskau war er schon beträchtliche 4,2°C wärmer als im langjährigen Monatsmittel und noch weiter östlich, in Kasan schon 4,9°C! Solche Abweichungen sind in den Sommermonaten nur äußerst selten zu finden. Weiter südlich, in Kiew, hingegen fiel mit +1,3°C die Abweichung weit geringer aus. Und ein Blick nach West- und Mitteleuropa zeigt zur selben Zeit recht kühle Temperaturen (wie die meiste Zeit dieses Sommers über – 1812 gehört ja in Mittel- und Westeuropa zu der Serie viel zu kühler Sommer jener Jahre, siehe Artikel „1816 – Das Jahr ohne Sommer“ (4)).

Bevor wir den weiteren Weg des napoleonischen Heeres durch Russland verfolgen, hier erst einmal der Versuch, die Großwetterlage über Europa zur Zeit dieser enormen Hitzewelle zu rekonstruieren.

Vor dem Sommer 2003 hätte man ob solcher Temperaturen verwundert und wohl etwas ungläubig die Augen gerieben, aber nun ist uns dieser Typ Sommer wohlbekannt: im August 2003 lag ein weit nach Süden reichender Trog über dem Ostatlantik und ein umfangreiches Hoch über Mittel- und Südeuropa (Omegalage); als Folge davon wurde sehr heiße Luft aus Nordafrika nach Mitteleuropa gepumpt und die 40°C-Marke in Deutschland gleich mehrfach überboten. Die Großwetterlage Ende Juli / Anfang August 1812 könnte sehr ähnlich gewesen sein – mit dem allerdings für Napoleon entscheidenden Unterschied, dass diese Druckgebilde nun etwa 1500 - 2000 km nach Osten verschoben waren: Trog über Mittel- und Südeuropa, umfangreiches Hoch über Osteuropa. Nachfolgende Tabelle zeigt für 14 europäische Städte die Abweichungen der Tagesmitteltemperaturen für den August 1812 [5, 6]; gut zu erkennen das Ost-West-Gefälle der Abweichungen, wobei aber auffällt, dass der Übergang von deutlich zu warmem August zu normalem bzw. zu kühlem August auf relativ kurzer Distanz erfolgt (siehe Wilna - Warschau).

Station August -Abweichung Station August -Abweichung
Moskau +4,2 K Danzig +0,3 K
St. Petersburg +3,5 K Wien 0,0 K
Wilna +3,2 K Budapest -0,6 K
Kasan +4,9 K Kiew +1,3 K
Warschau -0,1 K Mailand -0,7 K
Stockholm +1,5 K Paris -0,3 K
Berlin -0,5 K Edinburgh -0,4 K

Angesichts der spärlichen instrumentellen Messreihen gerade aus dem Osten und Südosten Europas kann man allerdings nicht sicher von einer Omega-Lage ausgehen. Vonnöten wären die Moskauer Daten und noch zumindest die von ein, zwei südlichen Stationen aus der Ukraine und dem Balkan. Da der August in Budapest etwas zu kalt, in Danzig ein wenig zu warm, in Stockholm aber schon deutlich zu warm ausfiel, gewinnt man den Eindruck, dass der vermutete Mitteleuropatrog weniger Nord-Süd denn NW-SO orientiert war.

Für einige Stationen (in [5] und [6], leider nicht für Wilna und St. Petersburg) gibt es für diesen Sommer auch Regenmessungen (Angaben in % des langjährigen Durchschnitts):

Station/Monat Mai-Regen Juni-Regen Juli-Regen August-Regen
Warschau 19 % 117 % 104 % 206 %
Uppsala 107 % 141 % 97 % 16,5 %
Mailand 87 % 72 % 123 % 96 %
Paris 82 % 92 % 31 % 92 %
Edinburgh 106 % 107 % 64 % 114 %

Warschau war im August 1812 ziemlich nass, Uppsala dagegen sehr trocken (5) – dies spricht für einen NW-SO orientierten Trog über der Mitte Europas; allerdings ist Mailand nur normalfeucht, ebenso Paris. Zur weiteren Klärung kann man nun noch die Tageswerte des Luftdrucks von Stockholm heranziehen [4], siehe Abb. 3. Gut zu erkennen ist ein Einbruch des Luftdrucks in Stockholm um den 23./24. Juni herum – dies entspricht etwa der Regenphase im Raume Wilna (siehe oben) und die Petersburger Temperatur stürzt auch ab. Die detaillierte Analyse dieser Wetterlage findet man auf der JUNI-SEITE. Der fallende Luftdruck im Zeitraum 18. - 25. 7. korrespondiert recht gut zu den kühlen Petersburger Temperaturen im gleichen Zeitraum. Für die große Hitzewelle Ende Juli und in der ersten Augustdekade findet sich allerdings kein sonderlich hoher Druck im Raume Stockholm. Später dann steigt der Druck über Südschweden kräftig an, während aber die Temperaturen in Petersburg deutlich zurückgehen. Offenbar ist die bisher gute Korrelation zwischen Petersburger Temperaturen und Stockholmer Luftdruck nun nicht mehr gegeben. Mögliche Erklärung: Ende Juli baut sich über Nordrussland eine Hochdruckzelle auf und verlagert sich dann langsam westwärts Richtung Schweden. Ab dem 15. aber fällt der Luftdruck über Schweden wieder, während in Petersburg die zweite (moderate) August-Hitzewelle in die Gänge kommt. Erneute Ostverlagerung des Hochs? Auch hier hilft nur eine detaillierte Analyse möglichst vieler europäischer Messreihen weiter. Jedenfalls pünktlich zur Schlacht von Borodino liegt zumindest über Südschweden ein für die Jahreszeit bemerkenswert kräftiges Hoch, während aber in St. Petersburg zur selben Zeit kühles Wetter herrscht!

Kehren wir aber nun wieder zum Gang der Ereignisse zurück.

Wunderschönes, trockenes, heißes Sommerwetter – aber für Napoleons Truppen in ihrem stark geschwächten Zustand war diese Hitzewelle eine tödliche Bedrohung. Am 28. Juli erreichte die Armee Witebsk, und angesichts der aufkommenden großen Hitze entschloss sich Napoleon, hier erst einmal zu rasten. Bis zum 10. August, also während der gesamten Hitzewelle, blieb man in der Stadt bzw. ihrer Umgebung. Aber gerade während dieser Rasttage sorgte die Kombination aus schier unerträglicher Hitze, schlechtem Wasser und der Ruhr für die bisher meisten Opfer dieses Feldzugs. Zählte man beim Einzug nach Witebsk noch etwa 240000 Mann, so waren es beim Abmarsch lediglich um die 180000, und in welcher Verfassung diese waren, kann man sich leicht vorstellen. Nach einigen kühleren Tagen wurde dann die letzte Augustdekade wieder ziemlich warm, wenn auch nicht so extrem wie Anfang August. Und jetzt endlich bekam Napoleon die so lange gesuchten Schlachten: eine erste größere bei der Einnahme von Smolensk und dann am 7. 9. die (wohl vor allem durch Tolstois Schilderung in Krieg und Frieden) berühmte Schlacht von Borodino. Letztere forderte rund 25000 Opfer auf französischer und etwa 50000 auf russischer Seite – ohne aber, wie oben schon gesagt, zu einer wirklichen Entscheidung zu führen. Am 14. September wurde Moskau erreicht und kampflos eingenommen. Die Verluste zwischen Smolensk und Moskau (siehe Bild 2) dürften somit etwa gleichermaßen auf Kampfhandlungen und Hunger/Seuchen/Erschöpfung zurückzuführen sein.

Über einen Monat wartete dann Napoleon im abgebrannten Moskau auf ein Friedensangebot des Zaren, aber es kam keines. Jetzt fiel ihm nichts mehr anderes ein, als den Rückmarsch zu befehlen; am 19. Oktober brach die napoleonische Armee mit noch rund 100000 Mann von Moskau zum Heimmarsch auf – viel zu spät, denn nun war klar, dass man es kaum vor Einbruch des Winters schaffen würde, Russland wieder zu verlassen. Und das Wetterpech blieb den Soldaten weiter treu: vom 19. - 23. Oktober regnete es stark, wieder waren alle Wege aufgeweicht und man kam nur mühsam und langsam voran. Zudem war der Rückweg fast identisch mit dem Hinweg, man zog also durch schon weitgehend verwüstetes und ausgeplündertes Land, wo oftmals noch die Toten des Vormarschs unbeerdigt an den Straßen und auf den Schlachtfeldern lagen! Schauriger Höhepunkt war dabei ohne Zweifel der 29. Oktober, als die Armee über das Schlachtfeld von Borodino zog, auf dem fast alle Toten der Schlacht noch unbeerdigt lagen. Trotz kalten Wetters (es lag schon etwas Schnee und es herrschte eisiger Wind) soll der Verwesungsgestank unbeschreiblich gewesen sein... Es gibt sogar mehrere Berichte von überlebend aufgefundenen verwundeten Soldaten, aber das ist schwer zu glauben, fast zwei Monate nach der Schlacht. Um den 6. November herum erfolgte dann ein erster, massiver Kälteeinbruch (siehe obige Diagramme) mit Höhe- bzw. besser gesagt Tiefpunkt am 14. 11. Die Nachttemperaturen dürften wohl unter -20°C gelegen haben. Das ganze zudem verbunden mit dichtem Schneefall. Solchem Wetter war die geschwächte Armee nicht mehr gewachsen: zu essen hatte man nur noch das Fleisch der eigenen Pferde, die auf den schneeglatten Wegen massenweise stürzten und sich die Beine brachen, die Kleidung war solchen Minusgraden keineswegs angepasst und als Folge davon starben Nacht für Nacht erst hunderte, dann tausende an Kälte und Erschöpfung. Verwundete wurden ihrem Schicksal überlassen und starben am Wegesrand, desgleichen Tausende, die ihre Waffen weggeworfen und die Reihen verlassen hatten – nachts duldete man diese nicht an den Lagerfeuern und sie erfroren. Und man darf nicht vergessen: all dies unter der ständigen Bedrohung durch die russische Armee!

Beresina Albrecht Adams berühmte Lithographie vom Beresina-Übergang. Adam war ja Teilnehmer des napoleonischen Feldzugs, aber beim Rückzug selbst nicht mehr an der Beresina dabei - er hatte einen Monat zuvor schon die Rückreise angetreten. Für sein Bild hat er sich jedenfalls einige künstlerische Freiheiten herausgenommen: hier könnte man meinen, es würde der Amazonas überquert...

Ab 18. 11. setzte dann Tauwetter ein; in St. Petersburg war die Tauwetterphase nur sehr kurz, weiter im Süden aber, wo Napoleons Truppen marschierten, offenbar einige Tage länger. Die fatale Wirkung von Tauwetter und Regen auf Schnee und gefrorenen Boden kann man sich leicht ausrechnen: alle Wege und Straßen verwandelten sich in grundlosen und nasskalten Morast. Kaum mehr ein Vorankommen möglich. Aber die schlimmste Auswirkung dieses Tauwetters war, dass die Beresina am weiteren Zufrieren gehindert wurde, also der Fluss, den die Armee auf ihrem Rückweg überqueren musste. Sie taute nun wieder soweit auf, dass man sie nicht mehr ohne Brücke überqueren konnte. Die ursprünglich vorhandenen Brücken waren von den Russen zerstört worden, so dass man gezwungen war, neue Behelfsbrücken zu bauen. Am 25. wurde der Fluss erreicht und man begann sofort mit dem Brückenbau, was nicht leicht war, da ab dem Nachmittag des 27. wieder starker Frost einsetzte – zu spät allerdings, um die Beresina noch schnell genug zufrieren zu lassen. Vom 26. bis zum 28. erfolgte der Übergang über die beiden Brücken, der aber am 28. durch russischen Artilleriebeschuss und vereinzelte Attacken stark gestört wurde. Szenen des Grauens spielten sich nun auf den Brücken ab, wer ins Wasser fiel war sofort verloren, viele aber wurden auch bei dem ungeheuren Gedränge auf den Brücken erdrückt oder zertrampelt, andere starben direkt durch den russischen Beschuss (6). Waren es vor dem Übergang noch etwa 50000, so zogen danach nur noch 28000 weiter Richtung Grenze. Auf der NOVEMBER-SEITE ist der Wetterablauf Tag für Tag dargestellt und insbesondere der Beresina-Übergang wird näher behandelt.

Beresina Und so sieht die Übergangsstelle über die Beresina bei dem Örtchen Studienka heutzutage aus: im Vordergrund das Ostufer, dann die Beresina (von rechts nach links fließend), dahinter das Westufer (Aufnahme von Ende August 2012). Vor 200 Jahren soll der Fluss hier aber noch breiter gewesen sein... (Auf der November-Seite sind noch weitere Fotos dazu zu finden.)

Es war klar, dass es jetzt nur noch um das nackte Überleben ging. So zog Napoleon für sich die Konsequenzen und verließ am 5. Dezember seine Armee – eine luxuriöse Kutsche brachte ihn dann innerhalb weniger Tage aus Russland heraus und in Sicherheit, während seine Soldaten sich weiter zu Fuß Richtung rettende Grenze schleppen mussten (7). Dieser 5. 12. ist aber nicht nur das Datum der – sagen wir es offen – Fahnenflucht Napoleons, sondern auch der Beginn einer wirklich massiven Kältewelle, wie man auch gut in dem Petersburger Diagramm sehen kann. Dort wurden schon am 4. 12. Tagesmittelwerte von -21°C gemeldet, und nach kurzer Milderung wurde es dann noch kälter: -24,2°C als Mittelwert am 11. 12., was auf Nachtwerte unter -30°C schließen lässt! (Tatsächlich fiel das Thermometer laut Messungen zweier Ärzte aus Napoleons Armee in den ersten zwei Dezemberwochen mehrfach unter -30°C, mit dem absoluten Tiefstwert von -35°C, siehe nachfolgende Abb. 8.) Um diese Zeit lebten nur noch 4000 der Soldaten, die den Beresina-Übergang bewältigt hatten. Durch Zusammenschluss mit beim Vormarsch als Nachhut zurückgelassenen Truppen erreichten dann am 13. Dezember noch etwa 10000 zerlumpte und halberfrorene Soldaten die russische Grenze – 10000 von einst über 400000! Und nach den heißesten je in dieser Gegend gemessenen Temperaturen wird so die napoleonische Armee noch leidvoller Zeuge eines weiteren All-Zeit-Rekordes: für Wilna (also genau dort, wo sich die Truppe im Dezember befindet) stellt dieser Dezember den – bis zum heutigen Tage – zweitkältesten jemals registrierte Dezember dar, mit einem Mittelwert von -12,2°C, was 8,6°C kälter ist als der Langzeit-Mittelwert (1781 - 1998) – fürwahr eine riesige negative und für Napoleons Truppen tödliche Abweichung! Und als wollte „General Winter“ Napoleon bis nach Paris verfolgen, schwappte in den Tagen nach dem 5. 12. diese Kältewelle über weite Teile Europas, bis hinein nach Frankreich, wo sich Eis auf der Seine bildete. Bittere Ironie, dass die letzte Dezember-Woche in Russland wieder deutlich wärmer wurde...

In Abb. 8 [10, 13] werden die zwischen Oktober und Dezember in Wilna gemessenen Werte der Tagestemperaturen zusammen mit den von der napoleonischen Armee gemessenen Temperaturen dargestellt (siehe dazu die Erläuterungen zu Abb. 3). Meist handelt es sich bei letzteren um die früh morgens gemessenen Temperaturen. Die wenigen positiven "napoleonischen" Werte sind mit einer Ausnahme (vom 27. 11.) nur Schätzwerte von mir: sie kennzeichnen die Tage, an denen Tauwetter herrschte. Man sollte aber die "Napoleon-Temperaturen" nur als in-etwa-Werte betrachten (8)! Auf der DEZEMBER-SEITE findet sich eine ausführliche Diskussion zur Verlässlichkeit dieser Messungen; auch wird dort wieder der Wetterablauf Tag für Tag dargestellt sowie eine eingehende Analyse der Wetterlagen jenes Monats vorgenommen.

Karte1 Vergleich der Temperaturmesswerte aus Wilna mit den bekannten Messwerten aus Napoleons Armee

Auch für November und Dezember kann man nun versuchen, ähnlich wie oben für den Sommer, die herrschenden Großwetterlagen zu rekonstruieren. Abb. 3 (siehe oben) zeigt neben der St. Petersburger Temperatur auch die Luftdruckentwicklung in Stockholm für den Zeitraum 20. 10. - 31. 12. Um den 17. Oktober herum sehen wir tiefen Druck über Stockholm; zwei, drei Tage später fängt der große Regen beim Auszug Napoleons in Moskau an – Verlagerung eines Skandinavientiefs Richtung SO? Der erste große Kälteeinbruch, verbunden mit Schneefällen, um den 5. 11. herum wird von relativ tiefem Luftdruck über Schweden flankiert. Das deutet auf ein Baltikumtief, das auf seiner Rückseite arktische Kaltluft ansaugt. Anders die Lage beim zweiten großen Kaltlufteinbruch Anfang Dezember: über Skandinavien befindet sich nun ein kräftiges Hoch, was die Lage „Hoch Fennoskandien“ als wahrscheinlich erscheinen lässt – allerdings ist just zu dieser Zeit der Luftdruck über Mailand auch relativ hoch anstatt tief, wie es eigentlich bei solch einer Lage zu erwarten wäre. Besser passt da schon die Entwicklung ab dem 11. 12., also zur Hauptphase der Dezember-Kältewelle: kräftiger Druckanstieg über Schweden und ebenso kräftiger Druckfall über Mailand. Die ausführliche Analyse kann man auf den Seiten für November und Dezember nachlesen.

Abschließend gibt nachfolgende Tabelle (9) nochmals einen schnellen Überblick über die Abweichungen der Mitteltemperatur für die drei entscheidenden Monate des Feldzugs: für Mai (Vorbereitung und Warten darauf, dass das Gras wächst), August (die große Hitzewelle) und Dezember (die große Kältewelle).


Station/Monat Mai-Mitteltemp. Mai-Abweichung August-Mitteltemp. August-Abweichung Dezember-Mitteltemp. Dezember-Abweichung
St. Petersburg 6,9° C -2,4 K 19,6° C +3,5 K -14,0° C -8,2 K
Moskau 10,2° C -2,1 K 21,1° C +4,2 K ? ?
Wilna 11,0° C -1,6 K 20,3° C +3,2 K -12,2° C -8,6 K
Warschau 12,4° C -1,3 K 17,7° C +0,2 K -10,9° C -8,1 K
Berlin 12,8° C -1,0 K 17,6° C -0,5 K -7,3° C -8,0 K


Das Fiasko des Jahres 1812 sollte für Napoleon aber im folgenden Jahr eine traurige Wiederholung finden: Durch das Ende der "Grande Armée" ermutigt, traten Russland, Preußen und schließlich auch Österreich 1813 vereint gegen Frankreich an. Napoleon rüstete aber in aller Eile wieder auf und konnte im Frühjahr 1813 eine neue Riesenarmee von über 600000 Mann ins Feld schicken, diesmal nach Deutschland. Die Gegner hatten ähnlich viele, und alles – über 1, 3 Millionen Soldaten – konzentrierte sich dann auf engem Raum, Sachsen und südl. Brandenburg. Der Sommer 1813 gehörte aber zur Serie schlechter west- und mitteleuropäischer Sommer jener Jahre. Schlechter Sommer + Krieg + Riesenheere = Hungersnot + Seuchen. Und so verlor Napoleon wiederum 2/3 seiner Truppe nicht durch direkte Feindeinwirkung, sondern durch Hunger und Seuchen!

Und ein letztes Mal fuhr ihm das Wetter in die Parade bei der Schlacht von Waterloo am 18. 6. 1815 (10): stundenlanger starker Regen in der Nacht vom 17. auf den 18. weichte den Boden so auf, dass Napoleon nicht – wie geplant – früh morgens mit dem Angriff beginnen konnte, sondern es fast Mittag war, als die Schlacht begann. Aber Zeit war an diesem Tag überaus kostbar für Napoleon, da er damit rechnen musste, dass die Preußen – zwei Tage vorher von ihm besiegt und nach Osten abgedrängt – wieder zurückkämen. Und so passierte es auch – am späten Nachmittag tauchten immer mehr und mehr preußische Verbände auf und griffen in die Schlacht ein, die Napoleon gerade dabei war zu gewinnen – das Ende ist bekannt ...

Denkmal Denkmal am Ostufer der Übergangsstelle über die Beresina; der Fluss selbst ist im Hintergrund zu erkennen.


Anmerkungen

  1. Die Moskauer Reihe hat leider – wie im Text schon erwähnt – für die gesamte napoleonische Ära eine Lücke, jedenfalls die im GHCN-Archiv veröffentlichten Daten. In Quelle [14] hingegen finden sich die gesuchten Monatsdaten für Moskau bis einschl. August 1812; danach nichts mehr, eine wohl kriegsbedingte Lücke.

  2. Wer sich einen Eindruck davon machen will, wie diese Schlacht ablief, sollte sich den dritten Teil der russischen Verfilmung von „Krieg und Frieden“ (Regisseur: Sergej Bondartschuk) ansehen, falls er die Gelegenheit dazu hat: eine der aufwändigsten, eindrucksvollsten und bedrückendsten Darstellungen dieses Gemetzels, die je auf die Leinwand kamen.

  3. Alle Zahlenangaben zu diesem Feldzug sind mit einer gewissen Vorsicht zu genießen: von Buch zu Buch schwanken hier die Angaben. Angesichts des Chaos, dass schon eine Woche nach Invasionsbeginn in der napoleonischen Armee herrschte, kann es nicht verwundern, dass schon 1812 der Überblick verloren ging. Oft zitiert ist eine ursprüngliche Stärke von 600000 Mann – aber darin enthalten sein dürften dann auch alle flankierenden und als Sicherung bzw. Besatzung zurückgelassenen Truppen; die eigentliche mit Napoleon ziehende Invasionsarmee dürfte im Bereich 450000 +/- 30000 gelegen haben; Zamoyski [7] schätzt ihre Stärke sogar nur auf 300000 - 350000 Mann. Allerdings muss man noch mindestens 50000 Zivilisten dazuzählen, die im Gefolge der Armee ebenfalls den Njemen überschritten.

  4. siehe Link "Das Jahr ohne Sommer" oben bzw. unten auf dieser Seite

  5. Gerade bei der Frage, ob in einer Region ein Sommer feucht oder trocken ausfällt, bräuchte man möglichst viele Regenmessungen aus dieser Region; denn was bedeutet es schon, dass Warschau im August viel Regen hatte? Vielleicht nur die Folge eines einzigen starken Gewitterschauers, während es im Rest Polens den ganzen Monat über knochentrocken war? Bedauerlicherweise gibt es aus diesen frühen Zeiten der instrumentellen Wetterdaten-Messungen nur sehr wenige Niederschlagsmessreihen, was etwas verwundert, denn im Prinzip ist es viel schwieriger, die Temperatur halbwegs korrekt zu messen als einfach einen Eimer in den Garten zu stellen und damit den Regen aufzufangen und nachzumessen!!!

  6. In Bondartschuks vierteiliger "Krieg und Frieden" – Verfilmung kommt seltsamerweise der Beresina-Übergang nicht groß vor, dafür aber in der 1956 gedrehten Hollywoodverfilmung des Romans. Aber nur knapp 5 Minuten sind dem Übergang gewidmet, vieles ist falsch dargestellt (z.B. war die echte Brücke keine Pontonbrücke) und wohl aus Kostengründen hat man sich auf nur eine Brücke beschränkt... Für ungeduldige Zuschauer: die ersten drei Stunden des Films überspringen und etwa 20 Minuten vor Schluss einsteigen :-)

  7. An diesem Tag veröffentlichte Napoleon auch das letzte Bulletin dieses Feldzuges, das mit dem berühmt – berüchtigten Satz endete: „Die Gesundheit Ihrer Majestät ist nie besser gewesen.“ Das klingt angesichts der Lage seiner Soldaten aufs äußerste zynisch, aber gedacht war diese Botschaft für Paris, wo Gerüchte über seinen angeblichen Tod umliefen und die Gefahr einer Revolte bestand. Dem wollte Napoleon entgegentreten und daher auch sein Verlassen der Truppe! Trotzdem: zum zweiten Mal nach 1799 ließ er damit seine Soldaten im Stich.

  8. Die aus Napoleons Truppe stammenden Temperaturmessungen wurden meist von zwei Armee-Ärzten vorgenommen (Larrey und Lagneau) und wurden in den letzten 200 Jahren in zahlreichen Werken über diesen Feldzug zitiert – leider aber sehr oft inkorrekt bzw. unklar (was auch daran liegt, dass Larrey z.B. in seinen Memoiren oft nur eine Zeitspanne nennt, in der eine gegebene Temperatur vorkam oder aber auch nur Temperaturspannen angibt). Im Laufe der Zeit konnte man so alle möglichen Temperaturen zu allen möglichen Daten lesen. Die in Abb. 8 von mir zusammengestellten Werte sind ebenfalls nur eine Annäherung und sicher nicht das letzte Wort, aber sie werden zumindest von der Wetterlagen-Analyse gestützt, siehe dazu die DEZEMBER-SEITE.

  9. Die Abweichungen beziehen sich immer auf die über die gesamte Dauer der jeweiligen Messreihe gebildeten Monatsmittelwerte, unter Benutzung von [5] und [6]

  10. Sergej Bondartschuk hat auch einen Spielfilm über diese Schlacht gedreht: „Waterloo“; ebenfalls eindrucksvolle Massenszenen – die Luftaufnahme vom Angriff der französischen Kavallerie auf die britischen Karrees hat Kinogeschichte geschrieben – aber hier dominiert doch sehr der reine Schaueffekt.

Benutzte Literatur / Online–Quellen

[1] August Fournier: Napoleon I., Band III, Wien 1922, Neuauflage Phaidon–Verlag – Anmerkung: nicht gerade das neueste Werk, was Detailreichtum und Sachlichkeit angeht aber immer noch eines der besten, die ich kenne.

[2] Paul Britten Austin: Napoleon's Invasion of Russia, Greenhill Books, London, 1993 – Anmerkung: voluminöses Werk (über 1100 Seiten), das hauptsächlich aus Augenzeugenberichten der napoleonischen Armee (russische Quellen werden nur sehr selten zitiert) zusammengestellt ist – und damit die beste Quelle gerade für Wetterinformationen darstellt. Aber natürlich nicht nur: Hier finden sich auch die eindringlichsten Schilderungen der unsäglichen Mühen und Qualen, die Soldaten und Zivilisten während dieses Feldzugs erleiden mussten.

[3] Ernst Klitscher: Michel Ney, Buchverlag Saarbrücker Zeitung, 1993 – Anmerkung: dies ist eine Biographie des bekannten napoleonischen Marschalls Michel Ney, eines waschechten Saarländers (wie ich auch) – schon von daher ein Muss, aber auch deshalb, weil Michel Ney 1812 die Nachhut befehligte und bis zum bitteren Ende (13. 12.) bei der Truppe blieb

[4] D. Camuffo, P. Jones (Hrsgb.): Improved Understanding of Past Climatic Variability from Early Daily European Instrumental Sources, Kluwer Academic Publishers, 2002 – Anmerkung: sehr schönes und nützliches, aber teures Buch; wesentlich: die beigefügte CD mit allen Tagesdaten von sieben der längsten europäischen Messreihen!

[5] NCAR Research Data Archive, http://dss.ucar.edu/Anmerkung: die Sektion „Freie Datensätze“ ist wirklich reichhaltig, darin findet sich auch der hier benutzte Satz mit Monatsmitteltemperaturen.

[6] GHCN-Klimaarchiv, http://lwf.ncdc.noaa.gov/oa/climate/climateresources.html

[7] Adam Zamoyski: 1812 – Napoleon's fatal march on Moscow, Harper Perennial, 2004, 644 S. – Anmerkung: eine ausgezeichnete Gesamtdarstellung des Feldzugs von 1812, in der sowohl die napoleonische als auch die russische Seite voll berücksichtigt werden. Wer sich gründlich informieren, aber nur ein Buch zu dem Thema lesen will, ist mit Zamoyskis Werk bestens bedient. 2012 ist es (endlich) auch in deutscher Übersetzung erschienen.

[8] Anka Muhlstein: Der Brand von Moskau – Napoleon in Russland, Insel Verlag, 2008, 324 S. – Anmerkung: eine weitere Gesamtdarstellung des Feldzugs von 1812, allerdings eher "für den eiligen Leser" und mit etlichen Ungenauigkeiten. Dafür aber mit interessanten Informationen zur Vorbereitungsphase des Feldzugs.

[9] Dominic Lieven: Russland gegen Napoleon, Bertelsmann Verlag, 2012 (Originalausgabe 2009), 763 S. – Anmerkung: eine Gesamtdarstellung des Feldzugs von 1812, aber auch der Ereignisse von 1813 und 1814 sowie des Zeitraums 1807 - 1812. Betont wird hierbei die russische Sicht der Dinge.

[10] Dominique-Jean Larrey: Memoires de chirurgie militaire et campagnes, Tome 4, Paris 1817 – Anmerkung: Larrey war der Chef-Chirurg der napoleonischen Armee und von ihm stammen viele der bekanntgewordenen Temperaturmessungen.

[11] Leo Tolstoi: Krieg und Frieden, Winkler Verlag, 1600 S. – Anmerkung: Der Feldzug von 1812 zieht sich über fast die Hälfte des Buches (allerdings gibt es dabei noch andere Schauplätze) und tatsächlich finden sich auch eine Reihe von Anmerkungen zum Wettergeschehen – aber man sollte diesen Klassiker natürlich nicht nur deswegen lesen :-)

[12] Marc Fochler: Gottesbeweis oder Pivous Abstieg in die Hölle, Osburg Verlag, 2012, 560 S. – Anmerkung: eine Darstellung der Ereignisse von 1812 in Romanform (also ein historischer Roman); spannend zu lesen und eine genaue literarische Umsetzung der oft schrecklichen Zustände, die während des Feldzugs herrschten. Auch die Wirkung des Wetters auf die Truppe wird eindringlich geschildert.

[13] E. Wahlen: Wahre Tagesmittel und tägl. Variation der Temperatur an 18 Stationen des russischen Reiches, St. Petersburg, 1886

[14] H. Wild: Die Temperatur-Verhältnisse des russischen Reiches, St. Petersburg, 1881

Bildnachweis

Bild 1: aus meinem Briefmarkenalbum

Bild 2: von mir erstellt, unter Benutzung von Angaben aus [2] und [7]

Bild 3: von mir erstellt, unter Benutzung von Angaben aus [13], [14], [2] und [7]

Bild 4: von Charles Joseph Minard, 1861, von mir umgezeichnet zwecks besserer Bildschirmdarstellung

Bild 5: von mir erstellt, unter Benutzung der Daten aus [4]

Bild 6: Lithographie von Albrecht Adam, Quelle: Wikimedia Commons

Bild 7: mit freundlicher Genehmigung von Sabine M. El-Helou

Bild 8: von mir erstellt, unter Benutzung von Daten und Angaben aus [2], [4], [7], [10]

Bild 9: mit freundlicher Genehmigung von Sabine M. El-Helou







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