Napoleon und das Wetter 1812
Napoleon und das Wetter 1812
 

Das Wetter im November 1812

Wetterkarte Mittlerer Luftdruck (auf Meeresniveau reduziert) im November 1812; der Abstand der Isobaren (weiß eingezeichnet) beträgt 1 hPa

1. Monats-Überblick

Schon Ende Oktober kam es in der Gegend von Moskau zu leichten Schneefällen (siehe Oktober-Seite). Drohte ein früher Wintereinbruch? Dass schon im November im Nordosten Russlands ernstes Winterwetter mit schweren Frösten einziehen kann, hätte Napoleon bekannt sein müssen, denn der letzte solche Fall lag nur drei Jahre zurück: der November 1809 fiel in St. Petersburg erhebliche 6°C kälter aus als normal, mit Tiefsttemperaturen deutlich unter -20°C! Zu dieser Zeit war Caulaincourt, nun zweiter Mann im Stab von Napoleon beim Russland-Feldzug, noch Frankreichs Botschafter in St. Petersburg – kaum vorstellbar, dass er Napoleon nicht vor den Gefahren eines frühen und schweren Wintereinbruchs gewarnt hat. (1809 folgte aber ein recht milder Dezember; der November 1810 war wiederum sehr kalt, um mehr als 4°C vom Normalwert abweichend, und wiederum folgte ihm ein zu milder Dezember! Und 1811 war der November etwas und der Dezember spürbar zu mild.) Die Gefahren eines Rückzugs im russischen Winter waren Napoleon bewusst – auch wenn er das Ausmaß der Kälte-Bedrohung gerne herunterspielte. Aber offenbar war für ihn der Winterbeginn mit Dezember assoziiert – hätte er ernsthaft in Betracht gezogen, dass schon der November gefährliches Wetter bringen könnte, so wäre der späte Aufbruch aus Moskau endgültig unerklärlich. Nur bei idealem Wetter und ohne nennenswerte "Störungen" durch die russische Armee wäre der Rückzug bis zum Njemen bis Ende November möglich gewesen – zwei Bedingungen, mit deren Eintreten vernünftigerweise nicht zu rechnen war!

Tatsächlich fiel dann der November 1812 in St. Petersburg mehr als 4°C zu kalt aus. Ironie der Geschichte: es sollte in St. Petersburg bis 1852 dauern, bevor wieder ein so kalter bzw. sogar noch kälterer November auftrat (der von 1819 war aber fast genauso kalt wie der von 1812) und in Wilna bis 1829. In der Rangfolge der kältesten November belegt der von 1812 in St. Petersburg Rang 11 und in Wilna Rang 32 (Zeitraum 1752 bzw. 1772 - 2010). Am kältesten war 1812 mit -8,33°C die zweite November-Dekade in St. Petersburg, was dort Rang 5 in der Hitliste der kältesten mittleren November-Dekaden ergibt. Der kälteste Novembertag in St. Petersburg war 1812 mit rund -14°C Tagesmitteltemperatur (das bedeutet in der Regel Nachttemperaturen um oder unter -20°C) der 14. Solche Temperaturen von -14°C und kälter (so wie 1812) gab es dort an insgesamt 77 Tagen im November im Zeitraum 1752 - 1996, macht also einen Anteil von 1,04 % aller November-Tage aus. In 43 Novembern gab es solch kalte Tage, was somit eine Eintrittswahrscheinlichkeit von 17,5% ergibt (betrachteter Zeitraum hier: 1752 - 1996).

Kurz zusammengefasst: der November 1812 war im Nordwesten Russlands deutlich zu kalt, mit Tiefsttemperaturen wie sie höchstens alle sechs Jahre dort vorkommen – oder sogar noch seltener, wenn man die gemessenen Temperaturen bei Napoleons Truppe betrachtet.

Abb. 1 zeigt die mittleren Luftdruckverhältnisse (wie üblich immer reduziert auf Meeresniveau) über Europa für den November 1812. Man erkennt gut ausgeprägten tiefen Luftdruck über dem Mittelmeer, im Westen und Osten flankiert von hohem Luftdruck. Über Skandinavien und Nordrussland dominiert dann wieder tiefer Luftdruck. Dies ist für West- und Mitteleuropa keine Strengwinterlage, denn das Osthoch hat (im Monatsmittel!) keine stabile Verbindung zum Westhoch, damit findet auch kein permanenter Transport kalter bis sehr kalter Luftmassen aus Russland nach Westen statt. (Man vergleiche dazu das entsprechende Bild für Dezember 1812 – siehe die Dezember-Seite –, wo eine gut ausgeprägte Hochdruckbrücke von Russland bis England existiert.) Nichtsdestotrotz ist es immer noch eine kalte Großwetterlage: atlantische Tiefs werden meist geblockt durch das Westhoch, können somit nur selten mit milder Luft bis zum Kontinent vordringen, während umgekehrt doch mehrmals im Monatsverlauf kalte Luft aus dem Osten, kanalisiert durch das Mittelmeertief, bis nach Zentraleuropa vorstoßen kann. Im Nordosten Europas, also dem für den napoleonischen Feldzug bedeutsamen Gebiet, halten sich der Einfluss des tiefen Luftdrucks über dem Nordmeer sowie des hohen über Zentral-Russland in etwa die Waage: so zeigt das Wetterdiagramm von Stockholm (siehe Diagramm-Teil weiter unten) ein stetes kräftiges Auf und Ab beim Luftdruck (und auch bei den Temperaturen), was den ständigen Wechsel von Hoch- und Tiefdruck anzeigt. Was das für das Wetter in dieser Gegend genau bedeutete, wird weiter unten, bei der Tag-für-Tag-Behandlung des "napoleonischen" Wetters, detailliert diskutiert.


2. Die Abweichungen von Temperatur und Niederschlag vom langjährigen Monatsmittel

Tempkarte Abweichungen der mittleren Temperaturen im November 1812 von den langjährigen Mittelwerten (in °C) der jeweiligen Stationen. Blaue Quadrate: negative Abweichungen (zu kalt), rote Quadrate: positive Abweichungen (zu warm); je größer ein Quadrat, umso größer die Abweichung

Abb. 2 zeigt für zahlreiche Stationen Europas die Abweichungen der mittleren Temperaturen des November 1812 von denen des langjährigen Durchschnitts, immer bezogen auf die jeweilige Station. Lesebeispiel: Warschau hatte im November 1812 eine mittlere Monatstemperatur, die mehr als 2°C (exakt: -2,37) unter den langjährigen für Warschau typischen Novembertemperaturen lag. Zur Einordnung der Abweichungen: 1°C wärmer oder kälter als der Durchschnittswert gilt als weitgehend normal, bei Abweichungen von bis zu +-2°C spricht man von zu warmen/kalten Monaten, bei noch größeren Werten von deutlich zu warmen/kalten Monaten und bei Abweichungen von mehr als 3°C nach oben oder unten von "sehr warmen" bzw. "sehr kalten" Monaten. Die Karte zeigt, dass der November 1812 in großen Teilen Europas zu kalt ausfällt. Am meisten betroffen von der Kälte dabei ausgerechnet die Gebiete, durch die Napoleons "Grande Armée" ihren Rückzug antreten musste: Baltikum (-2 bis -4°C kälter als normal) und Nordwestrussland (St. Petersburg mit -4,36°C Abweichung vom Normalwert der "negative" Spitzenreiter). Weit im Osten, liegt Kasan mit seinen rund -2°C Abweichung vom Normalwert (der im November dort bei etwa -3,5°C liegt) interessanterweise nicht so tief wie St. Petersburg oder die baltischen Staaten. Hier wären die Temperaturwerte von Moskau (wieder einmal) sehr von Nutzen – aber es gibt sie halt nicht mehr! Westeuropa (Frankreich, England, Spanien) ist nur leicht unterkühlt, während Zentraleuropa schon spürbare negative Abweichungen aufzuweisen hat – hauptsächlich verursacht durch einen ab dem 21. 11. bis knapp zum Monatsende dauernden Kaltlufteinbruch (siehe z.B. Diagramme von Berlin, Augsburg und Wien). Dieser Kaltlufteinbruch ist sehr interessant, denn er startet just an dem Tag, an dem an der Beresina die berühmt-berüchtigte Tauwetterperiode einsetzte, die verhinderte, dass die Truppen Napoleons eine zugefrorene Beresina vorfanden und sie so zum Brückenbau gezwungen waren – dieses Ereignis wird weiter unten noch diskutiert!

Karte1 Abweichungen der Niederschlagsmenge im November 1812 von den langjährigen Mittelwerten der jeweiligen Stationen (in % des Normalwertes). Braune Quadrate: negative Abweichungen (zu trocken), blaue Quadrate: positive Abweichungen (zu nass); je größer ein Quadrat, umso größer die Abweichung

Auch sehr bedeutsam für das Wettergeschehen: die Menge des gefallenen Niederschlags. Leider sind Niederschlagsmessungen aus jener Zeit speziell für Ost-Europa nur spärlich überliefert – Abb. 3 zeigt die Messergebnisse für die meisten der verfügbaren Stationen (in West- und Mitteleuropa habe ich einige Stationen der Übersicht halber weggelassen). Angegeben ist, wieviel Prozent mehr oder weniger, verglichen zum langjährigen Normalwert in jenem November 1812 an jeder der Stationen gefallen ist. Auch hier ein Lesebeispiel: in Warschau fielen 46% mehr Niederschlag als dort üblicherweise in einem November fällt, während aber in Karlsruhe 39% weniger Regen als gewöhnlich fiel. Insgesamt zeigt der November 1812 die für diese Großwetterlage typische Charakteristik: er ist in großen Teilen West- und Mitteleuropas zu trocken, nur im östlichen Mitteleuropa fällt er zu feucht aus. Bedauerlicherweise gibt es keine Messwerte für das Baltikum und Russland. Niederschlagsmengen können aber leider eine große räumliche Varianz aufweisen, selbst bei eng benachbarten Orten (man betrachte z.B. die deutlichen Unterschiede der Novemberwerte bei den schottischen Stationen); von daher sind wirklich sichere Aussagen über die Niederschlagsverhältnisse im November 1812 angesichts des dünnen Stationsnetzes nicht möglich. Immerhin spiegelt aber die Niederschlagskarte doch recht gut den Einfluss von Hochs und Tiefs im Monatsmittel wider: so zeigt Abb. 1, dass Schottland im Monatsverlauf hauptsächlich tiefdruckdominiert ist, während der Süden der britischen Inseln, also England, mehr von der Nähe des Hochs profitiert: entsprechend findet man in Schottland viele Orte mit deutlich höher als normalem Niederschlag (mit Ausreißern nach unten, siehe Islay), während in England eher Regen-Defizite anzutreffen sind. Bedeutet dies, dass man den in Warschau schon zu sehenden Trend erhöhter Niederschlagswerte weiter nach (Nord)Osten extrapolieren darf? Aber Schweden meldet – trotz tiefen Druckes – geringer als normale Niederschlagswerte! Hilfreich kann auch hier ein Blick auf einen möglichst ähnlichen Monat aus neuerer Zeit sein: Tatsächlich ist der zum November 1812 "ähnlichste" Monat, was die mittlere monatliche Luftdruckverteilung betrifft, der November 1985, also ein vergleichsweise zeitlich naher Monat. Und die Ähnlichkeit ist wirklich sehr groß, fast wie ein Zwilling! Aber der Teufel steckt mal wieder im Detail: 1985 war zwar Wilna etwa genauso kalt wie 1812, St. Petersburg aber deutlich wärmer! Und der meiste Niederschlag 1985 in Wilna (insgesamt rund 35 mm) fiel in der ersten Monatshälfte noch als Regen – als es dann kalt wurde, fielen nur noch 5 mm Niederschlag, was eine etwa 4 - 8 cm dicke Schneedecke lieferte. 1812 hingegen wird von deutlich höheren Schneedecken in der Gegend berichtet – siehe weiter unten!


3. Wettertagebuch der Truppe

Der Wetterablauf im November läßt sich dank der zahlreichen Berichte der (überlebenden) Feldzugsteilnehmer relativ gut rekonstruieren – im November vielleicht sogar besser als für jeden anderen Monat des Feldzugs, da jetzt das Wetter als entscheidender Faktor eine immer größer werdende Rolle spielte und deshalb zu entsprechend häufigen Erwähnungen in Tagebüchern und Memoiren führte. Da bleibt es allerdings auch nicht aus, dass man zuweilen auf sich widersprechende Äußerungen stößt; zudem muss man bedenken, dass zwischen Vorhut und Nachhut oft eine größere Strecke von 30 bis zuweilen gar 100 km lag, so dass durchaus unterschiedliche Wettererscheinungen von ein- und demselben Tag gemeldet werden konnten. Ich habe versucht, aus all diesen Berichten einen möglichst konsistenten Wetterablauf ("Wettertagebuch der Truppe") zu erstellen für jeden Tag des Monats, soweit möglich. Im nächsten Abschnitt wird dann versucht, aus diesen Truppen-Wettermeldungen und den 1812 europaweit gemessenen Wetterdaten (siehe Abb. 1 - 3 und die Wetterdiagramme) die damals herrschenden Wetterlagen zu rekonstruieren.

Das folgende "Wettertagebuch" besteht aus drei Spalten; die Spalten "Datum" und "Herrschendes Wetter" bedürfen keiner Erklärung, wohl aber die zweite Spalte "KHQ-Position". "KHQ" ist die Abkürzung für "Kaiserliches Hauptquartier" und "KHQ-Position" bezeichnet somit den Ort, wo sich an jenem Tag Napoleon mit seinem Stab befand – dies, damit man eine grobe Vorstellung bekommt, wo in Russland sich das Geschehen gerade abspielt. "Grob" deshalb, weil der Truppen-Lindwurm ja zeitweise bis zu 100 km in die Länge gezogen war!


Datum KHQ-Position Herrschendes Wetter
1. 11. Viazma Nacht zum 1. klar, etwa -5°C, tagsüber sonnig und recht mild. Etwas Eis auf dem Viazma-Fluss, wo er durch die Stadt (Viazma) fließt
2. 11. Viazma In der Nacht vom 2. auf den 3. fällt die Temperatur auf -10°C
3. 11. verlässt Viazma Nachts kommt dichter Nebel auf; am Morgen greifen die Russen unter Miloradovich im dichten Nebel die napoleonische Nachhut an ("Nebelschlacht"). Gegen Mittag lichtet sich der Nebel. Weiter "vorne" aber wird von einem sonnigen und recht milden Tag berichtet. Etliche Flüsse sind aber schon mit einer dünnen, nicht tragfähigen Eisschicht bedeckt.
4. 11. erreicht Doroghobout Es liegt Schnee, aber der Tag ist nicht sehr kalt. Im Tagesverlauf tritt aber Wetterverschlechterung ein: ein kalter Wind kommt auf und es fallen kräftige Graupelschauer.
5. 11. in Doroghobout Die Bewölkung wird immer dichter; schließlich fängt es an in dicken Flocken zu schneien und der Wind – aus Norden kommend – nimmt immer mehr zu.
6. 11. westl. Doroghobout Erst Regen, der dann in starken, den ganzen Tag über anhaltenden Schneefall übergeht, dabei starker Wind. 60 cm Schnee sollen gefallen sein!
7. 11. ??? Tagsüber weitere Schneefälle, dabei zunehmend kälter und noch sehr windig. In der Nacht zum 8. starke Schneefälle und starker Wind; Temperatur aber nicht unter -10°C sinkend.
8. 11. ??? Am Morgen dichter Nebel. Schnee liegt teilweise knietief (Verwehungen?). Der Dnjepr ist mit treibenden Eisschollen bedeckt. Tagsüber schneit es aber nicht mehr, ist aber sehr kalt.
9. 11. erreicht Smolensk Am Morgen dichter Nebel und sehr kalt, mittags um die -15°C bei Nordwind. Prinz Eugene kommt mit seiner Truppe wegen des Nebels an der Wop in große Schwierigkeiten ("vorweggenommenes Beresina-Fiasko", näheres siehe unten)
10. 11. Smolensk Eugenes Truppe erreicht den Ort Dukhovchina
12. 11. Smolensk Temperatur geht stark zurück, fällt auf -24°C
13. 11. Smolensk Davouts Nachhut erreicht Smolensk. Temperatur nachts bei etwa -25°C; starker NO-Wind, vor allem in der Nacht zum 14. Im Tagesverlauf erreicht auch Eugenes Truppe Smolensk.
14. 11. verlässt Smolensk Am Morgen sehr kalt: -22°C; es schneit in dicken Flocken, dabei starker Wind. ABER: nach anderen Berichten sonniges, aber sehr kaltes Wetter. Schneefall daher wohl nur ein lokaler Schauer. Die verschiedenen Corps verlassen Smolensk nun im 1-Tages-Abstand.
15. 11. erreicht Krasnoie Bedeckter Himmel, -24°C. Es liegt viel Schnee, aber die umliegenden Sümpfe sind noch nicht fest gefroren: etliche Wagen versinken im sumpfigen Gelände. Der Krasnoie-Fluss ist ganz zugefroren; "normalschwere" Wagen können ihn ohne Probleme überqueren, aber die schweren Transportwagen brechen ein. Am Abend weht ein eisiger, kräftiger Wind.
16. 11. Krasnoie Auf den Feldern liegt der Schnee knietief. Es herrscht heiteres, recht sonniges Wetter und ist mittags nicht mehr so kalt. Die Nacht zum 17. ist klar.
17. 11. erreicht Liady Schlacht von Krasnoie. Leichtes Tauwetter: das Eis der Losima (bei Krasnoie) bricht auf; mehrere Pferde brechen beim Versuch der Überquerung ein. Wohl noch sonniges Wetter. ABER: laut Larreys Messung - 15°C; aber sehr unklare Aussage, zeitlich nicht sicher zuordenbar!
18. 11. erreicht Dubrovna Tauwetter hat eingesetzt; tagsüber dicker Nebel. Am Abend beginnt es wieder zu frieren: der tagsüber angetaute und durchfeuchtete Schnee gefriert wieder, die Straßen werden dadurch ganz eisig und rutschig, was zu einem riesigen Problem für die Truppe wird. In der Nacht zunehmend windiger und es fängt an zu schneien.
19. 11. erreicht Orsha Dnjepr noch so fest zugefroren, dass er auch mit Pferden überquert werden kann. Tagsüber laut Larrey noch Schneefall; nachts dann wohl trocken, aber noch stark bewölkt.
20. 11. verlässt Orsha Bei Studianka an der Beresina – dem Ort des späteren Brückenbaus – treiben Eisschollen (Fluss also nicht fest zugefroren) und die Furt ist an der tiefsten Stelle nur etwa 1 m tief. Die Nacht zum 21. ist klar und kalt.
21. 11. erreicht Toloczin Ist es am Morgen nach der klaren Nacht noch eisig, so setzt im Tagesverlauf starkes Tauwetter ein und der Wind dreht auf NW. Im sich bildenden Schneematsch kommen viele der schwer beladenen Schlitten nicht mehr weiter und müssen aufgegeben werden.
22. 11. Toloczin Tauwetter hält an; weiterhin NW-Wind. Russische Truppen nehmen Borissow ein.
23. 11. erreicht Bobr Französische Truppen erobern Borissow zurück, aber beim Rückzug verbrennen die Russen die einzige Brücke über die Beresina. Tagsüber noch Tauwetter; abends beginnt die Temperatur zu fallen und es fängt an stark zu schneien. Aus dem nun wieder gefrierenden Schneematsch wird scharfkantiges Eis, das das Marschieren sehr erschwert. Der Wind fängt an, auf Richtung NO zu drehen. Die Wassertiefe der Beresina in der Furt bei Studianka ist nun tiefer als 1 m: Flusspegel steigt aufgrund des Tauwetters an. Starker Eisgang.
24. 11. erreicht Loschnitza keine Informationen über das Wetter dieses Tages
25. 11. erreicht Borissow Temperatur wieder unter dem Gefrierpunkt, aber noch nicht extrem kalt. Auf der Beresina treiben nur wenige Eisschollen. Bei Studianka ist der Fluss etwa 20 m breit, aber wegen dem flachen, sumpfigen (orographisch) rechten Ufer (das auf der "anderen" Seite) und dem Hochwasser ist die effektiv zu überbrückende Breite etwa 70 m. In der Flussmitte beträgt die Wassertiefe nun rund 2 m, doppelt so tief wie noch wenige Tage vorher! Die Nacht zum 26. ist klar und ziemlich kalt. In der Nacht zum 26. in Studianka Bereitstellung und Bearbeitung des für den Brückenbaus benötigten Materials (Holzbeschaffung und -Zuschnitt).
26. 11. Studianka Um 8 Uhr morgens kommt Napoleon in Studianka an und der Bau der beiden Brücken beginnt: flussaufwärts die erste (für die Infanterie), flussabwärts, etwa 180 m von der ersten entfernt, die zweite (für Artillerie und schwere Transportwagen). Um 11 Uhr ist die erste, etwa 4 m breite, Brücke, um 15 Uhr dann auch die zweite fertiggestellt. Am Nachmittag fängt es an zu schneien, erst leicht, gegen Abend zu dann stärker. Dabei weht ein eisiger Nordwind, der sich in der Nacht zum 27. sogar noch verstärkt. Auf der Beresina werden die Eisschollen im Tagesverlauf häufiger und immer dicker.
27. 11. Studianka Am Morgen kein Schneefall mehr, im Gegenteil: heiteres Wetter, mit Temperaturen um die +3°C. Flusstiefe in der Furt nun stellenweise bis zu 3 m; es treiben "10 bis 15 Quadratfuß" (also etwa 1 - 1,5 m²) große Eisschollen im Wasser. Die Beresina fließt sehr schnell. Das alles deutet auf Hochwasser und somit (zumindest in ihrem Oberlauf) auf weiterhin anhaltendes kräftiges Tauwetter hin! Auch um 14 Uhr wird noch von "mildem Wetter" berichtet. Dazu passt, dass das Sumpfgelände auf dem rechten Ufer nur (noch) teilweise gefroren ist: immer wieder brechen Soldaten nach der Brückenüberquerung durch die nur angefrorene Sumpfoberfläche und sinken im Schlamm ein. Am Nachmittag dann aber Wetterverschlechterung: die Temperatur beginnt zu fallen und es setzt starker Schneefall ein – angeblich fallen noch 30 - 40 cm Neuschnee!
28. 11. Studianka In der zweiten Nachthälfte hat der Schneefall wieder aufgehört, es klart auf und die Temperaturen fallen stark. Bei den Brücken morgens Nebel. Am Morgen ist es sehr kalt; aus Borissow aber wird wieder Schneefall ("dicht, in großen Flocken") gemeldet. Der Wind weht aus Norden. Auch in Studianka fängt es ab den Morgenstunden wieder leicht an zu schneien. Gegen Mittag zu fällt der Schnee dann so dicht, dass "man keine 30 Schritte weit" sehen konnte. Am Nachmittag hört der Schneefall wieder auf. Ab den Morgenstunden greifen am Westufer russische Truppen an, und auch am Ostufer muss Napoleons Nachhut gegen angreifende russische Verbände kämpfen. Dadurch geraten im Tagesverlauf immer wieder die Brücken bzw. das Gelände davor mit dem sich dort noch aufhaltenden großen Tross (zumeist Zivilisten) unter russischen Kanonenbeschuss, was zu großer Panik und Chaos führt! Etwa 9000 kommen dabei ums Leben. Insgesamt verlieren die napoleonischen Truppen etwa 25000 Leute (Soldaten und Zivilisten zusammengerechnet), die russischen Truppen aber auch ca. 15000.
29. 11. erreicht Kamen Am Morgen noch starker Nordwind, aber kein Schneefall. Nachdem in der Nacht die französische Nachhut die Brücken überquert hat, werden diese um 8:30 Uhr in Brand gesteckt – und auf dem Ostufer bleiben so ca. 7000 zurück! Die Beresina fängt an, ganz zuzufrieren, aber die Eisdecke trägt noch nicht. Um 10 Uhr erreicht das KHQ Zembin, eine etwa 10 km von Studianka entfernte Ortschaft. Bis dorthin führt die Straße mit vielen Brücken (die Russen hatten es versäumt, diese Straße zu blockieren und die Brücken zu zerstören!) durch einen mit Kiefern bewachsenen Sumpf, der noch nicht zugefroren ist. Tagsüber bleibt es trocken bei bedecktem Himmel. Gegen Abend setzt aber starker Wind ein, der den gefallenen Neuschnee aufwirbelt und so zu einer Art "Blizzard" führt.
30. 11. verlässt Kamen In der Nacht zum 30. klart es auf und die Temperatur fängt an, stark zu fallen. Am Morgen des 30. werden dann Werte um -30°C gemessen. Tagsüber ist es dann sonnig, aber es bleibt eisig kalt. Ein vermutlich viel zu tiefer, ja falscher Meßwert - siehe weiter unten das Kapitel "Die Rückkehr des Kältehochs: 27. - 30. November - ein Märchen"

Eine Anmerkung vom 9. 11. ("vorweggenommenes Beresina-Fiasko") muss noch erläutert werden: Als Eugenes Truppe die Wop erreichte, einen zwar kleinen, aber an der Überquerstelle schnell und in einer kleinen Schlucht fließenden Fluss, war dieser nur mit einer dünnen, nicht tragfähigen Eisschicht bedeckt. So musste eine Behelfsbrücke von seinen Pionieren gebaut werden. Im herrschenden dichten Nebel bemerkten die auf die Brücke drängenden Truppen aber nicht, dass diese noch gar nicht ganz fertiggestellt war (das letzte Viertel fehlte, es war entweder nie fertiggestellt worden oder aber war wieder eingebrochen – die Angaben dazu sind nicht ganz klar)! Als die Soldaten das Ende der unfertigen Brücke erreichten und stoppten, wurden sie von den nachdrängenden Truppen über den Rand geschoben und fielen ins Wasser. Schnell entstand ein ungeheures Chaos; schließlich mussten die meisten Soldaten ihren Weg durch den Fluss suchen. Mangels benutzbarer Brücke und wegen der steilen vereisten Ufern konnte Eugenes Truppe so gut wie keine ihrer Kanonen retten. Nach diesem Übergang war die Truppe stark dezimiert und nicht mehr kampffähig – sie kehrte, von den Russen bedrängt, um (eigentlich sollte sie nach Witebsk ziehen) und schloss sich wieder der Hauptarmee an. Ein schlimmes Beispiel dafür, was ungünstige Wetterbedingungen anrichten können und in gewisser Weise eine vorweggenommene Beresina-Überquerung!

Soweit das "Wettertagebuch" der napoleonischen Truppen! Von russischer Seite her konnte ich bislang leider nur wenige Angaben finden.


Hier nun eine kleine Bildergalerie von der Übergangsstelle an der Beresina; alle Fotos wurden Ende August 2012 aufgenommen (Wiedergabe aller Bilder mit freundlicher Genehmigung von Sabine M. El-Helou).

Stelle des Beresina-Überganges: Ostufer Blick auf die Beresina, etwas nördlich der Übergangsstelle Blick auf die Beresina, etwas nördlich der Übergangsstelle
Ein weiteres Denkmal auf der Ostseite der Übergangsstelle Auf dem Schlachtfeld auf der Westseite, Blick zum Ostufer Symbolische Grabstätte für einen napoleonischen Soldaten (Westufer)
Übergangsstelle: Blick vom Westufer zum Ostufer hinüber Eine Kombination aus Hotel und Museum zu den Ereignissen von 1812 Im Museum: Ob dies wohl der Schlitten von Napoleon war?

4. Wie zuverlässig sind die Angaben im "Wettertagebuch"?

Liest man sich dieses "Wettertagebuch" sorgfältig durch, so drängen sich eigentlich sofort zwei Fragen auf: wie zuverlässig sind die angegebenen Temperaturmessungen und wie glaubwürdig sind die geschilderten Wetterphänomene? Hier der Versuch einer Antwort:

Wie zuverlässig sind die angegebenen Temperaturmessungen?

Bei der napoleonischen Truppe waren mehrere Personen mit Thermometern ausgerüstet. Allerdings werden oft deren Messungen nur von anderen Feldzugteilnehmern zitiert, ohne dass immer die eigentliche Quelle angegeben wird, was eine Einschätzung schwierig macht. Namentlich zuordenbare Messungen existieren hauptsächlich von zwei Ärzten aus Napoleons Truppe: zum einen von Dr. Louis Lagneau, einem Chirurgen der Jungen Garde, und von Dr. Dominique-Jean Larrey, dem Chefchirurgen der Truppe im Generalsrang. Und nur von letzterem ist etwas näheres über sein Thermometer bekannt: ein Reaumur-Thermometer, mit einem Alkohol-Wasser-Gemisch als Messflüssigkeit (nur mit Alkohol-Thermometern kann man tiefe Temperaturen unter -30°C noch messen), dass mittels einer Schnur an einem Knopfloch seines Mantels befestigt war. Dies ist natürlich keine "normgerechte Aufstellung", was aber unter den herrschenden katastrophalen Bedingungen (des Rückzugs) auch nicht anders zu erwarten war. Mit diesem Thermometer werden dann auch im Dezember Temperaturen bis -35°C gemessen (der oft zitierte Tiefstwert von -37°C stammt von einer Lagneau-Messung, siehe Dezember-Seite). Aber wie exakt konnte man 1812 mit solchen Thermometern die Temperatur messen? Nun, wenn sie sorgfältig hergestellt und penibel geeicht wurden, sehr exakt – aber das war vor 200 Jahren keineswegs bei den "handelsüblichen" Thermometern der Fall! Exakte Temperaturmessung (und ebenso Luftdruckmessung) war zu jener Zeit "High tech"! "Normale" Thermometer waren oft schlecht geeicht, vor allem im Bereich hoher und tiefer Temperaturen. Und gerade letztere interessieren hier; man kann aber ohne weitere Kenntnis des Geräts nur einen Fehlerschätzwert abgeben, gewonnen aus anderen bekannten Messungen jener Zeit, die man mit exakt gemessenen Werten vergleichen konnte. Demnach muss man mit einem Fehler so um die 5°C rechnen, um die die Thermometer der Truppe zu tiefe Werte anzeigten. Aber wie gesagt, nur eine grobe Schätzung!

Muss man also jetzt all diese extremen Tiefstwerte um 5°C erhöhen? Nicht unbedingt, denn dieser (vermutete) "Gerätefehler" könnte durch den "Aufstellungsfehler" kompensiert werden: das Larrey-Thermometer wurde ja offenbar "am Mann", also in Körpernähe, getragen – was auf jeden Fall zu einer Erhöhung der Messwerte führt. Falls der Mantel aber gut warmhielt (war bei der Truppe eher selten der Fall) und er zudem noch mit Eis verkrustet war (weit verbreitet bei der Truppe), könnte der Wärmestrom vom Körper durch den Mantel hindurch nur klein gewesen sein. Aber eine zweite und wohl weitaus bedeutendere Verfälschung kam vor allem nachts hinzu: die Lagerfeuer! So uneffektiv sie auch oft waren (jede Nacht erfroren viele, im Dezember sehr viele, Soldaten trotz naher Lagerfeuer – ohne hatte man im Freien überhaupt keine Überlebenschance), so führten sie doch immer zu einer Erhöhung der Umgebungstemperatur. Und auch tagsüber, beim Marschieren, war die Umgebungstemperatur erhöht, allein dadurch, dass ja Zehntausende von Menschen und Pferden oft dicht gedrängt unterwegs waren. All diese Effekte wirkten somit temperaturerhöhend – und könnten vielleicht die zu tiefen Messungen gerade kompensieren. Wenn also Larreys Thermometer, nur als Beispiel, -30°C anzeigte, waren es tatsächlich "nur" -25°C. Aber abseits des Mantels, der Lagerfeuer und den dicht gedrängten Marschkolonnen, also draußen in der "freien Natur" waren es dann doch wieder -30°C. Und somit kann man die Temperaturen, so wie berichtet, stehen lassen – man sollte sie aber nur als "in etwa"-Werte betrachten!

Was noch auffällt: die allermeisten berichteten Temperaturmessungen stammen aus der Zeit nach dem Auszug aus Moskau – von Larrey z.B. gibt es keine Temperaturangabe vor dem Verlassen von Moskau! Was die Frage aufwirft, ob er sein Thermometer vielleicht erst in Moskau erworben bzw. erbeutet hat? In seinen Memoiren geht er jedenfalls mit keinem Wort darauf ein...

Wie glaubwürdig sind die geschilderten Wetterphänomene?

Hier müsste man zwischen Tagebüchern und oft viele Jahre später geschriebenen Memoiren unterscheiden. Aktuell habe ich beide Quellenarten gleichwertig behandelt, einfach aus Zeitgründen. Drei prinzipielle Fehlerquellen treten auf: falsche Erinnerungen, Übertreibungen und Ungenauigkeiten. Tatsächlich gibt es etliche Tage, wo sich Wettermeldungen widersprechen – wenn man Glück hat, existieren aber mehrere Meldungen zu einem Tag und die "Mehrheitsmeinung" entscheidet dann (so z.B. am 27. 11., wo eine Quelle von einem "eisigen Tag" an der Furt berichtet, aber mehrere andere von eher mildem Wetter); manchmal aber kann man den Widerspruch nicht auflösen – in dem "Wettertagebuch" sind dann beide Versionen erwähnt. Störender als solche Widersprüche sind aber Übertreibungen! War der Wind wirklich so oft so stark und eisig? Hat es wirklich so oft so stark geschneit? Gerade bei extremen Wetterlagen neigt der Mensch dazu, egal ob vor 200 Jahren oder jetzt, das Extreme beim Berichten darüber noch etwas extremer zu machen... Im nächsten Abschnitt wird versucht, aus den instrumentellen Beobachtungen von 1812 und den Meldungen des "Wettertagebuches" die damals herrschenden Wetterlagen zu rekonstruieren – wo dies möglich ist, kann man dann auch abschätzen, wie sehr bei den Berichten übertrieben wurde.


5. Die Wetterlagen im Monatsverlauf

Karte1 Änderungen des Luftdrucks von Tag zu Tag im November 1812 für London, Mailand und Stockholm

Der tatsächliche Wetterablauf im November 1812 war mit Sicherheit nicht so statisch wie es die in den Kapiteln 1 und 2 gezeigten mittleren Monatswerte suggerieren. Tatsächlich schwankt der Luftdruck an verschiedenen europäischen Stationen im Laufe des Monats doch recht deutlich – Abb. 4 zeigt die Luftdruckveränderungen für London, Mailand und Stockholm. Diese drei Stationen bilden über Europa quasi ein Dreieck, dass den Norden, Westen und Süden des Kontinents überdeckt und deshalb gut für die Rekonstruktion des Europawetters zu gebrauchen ist. Sehr hilfreich ist es, sich aber auch das Wetterdiagramm von Stockholm näher anzusehen. Deshalb ist es hier explizit als Abb. 5 gezeigt (obwohl es weiter unten als Bestandteil der Wetterdiagramm-Sektion nochmals eingebaut ist). Sehr markant das Auf und Ab im Luftdruck: insgesamt kann man 5 Einbrüche des Druckes zählen; der letzte davon, am 30. 11. ist noch am Fallen und wird erst im Dezember eine Rolle spielen (siehe Diskussion dort). Der dritte Einbruch am 10. ist nur schwach ausgeprägt. Bleiben also die "großen" Einbrüche um den 4., 18. und 25. herum.

Stockholm Tägliche Änderungen des Luftdrucks und der Temperatur im November 1812 in Stockholm

Der Wintereinbruch vom 5. - 7. November

Fangen wir also vorne an: Der Monat startet im Norden mit hohem Luftdruck, auch über weiten Teilen Mitteleuropas herrscht hoher Druck, über England ist er etwas niedriger. Es entwickelt sich dann, vermutlich über der nördl. Nordsee, ein kräftiges Tief, dass nach Skandinavien zieht und dort am 4. seinen Höhepunkt erreicht und dann seinen Einfluss nach Süden ausdehnt: jedenfalls fällt am 5. und 6. über Mitteleuropa der Luftdruck deutlich. England aber wird davon nur wenig beeinflusst. Das Tief führt aber zu keinen nennenswerten Änderungen im Temperaturniveau West- und Mitteleuropas, auch in Stockholm (siehe Abb. 5) ändert sich temperaturmäßig nur wenig. In St. Petersburg steigt die Temperatur bis zum 6. um 2 - 3 Grad an, ebenso in Wilna. Das Tief zieht zwischen dem 4. und 6. vermutlich über Südskandinavien weiter nach Polen und von dort dann mit eher nordöstlichem Kurs weiter nach Russland. Auf seiner Vorderseite führt es, verglichen zu dem über Nordwest-Russland zu dieser Zeit herrschenden Temperaturen, etwas mildere Luftmassen mit sich – der Temperaturanstieg in St. Petersburg zeugt davon. Und ebenso das relativ milde Wetter am 4. bei der napoleonischen Truppe sowie die Graupelschauer dort. Am 5. und 6., mit der weiteren ONO-Verlagerung des Tiefs, kommt die Gegend langsam auf dessen Rückseite (es wird dementsprechend auch von einer Drehung des Windes auf Nord berichtet) und es fließt zunehmend kältere Luft ein – daher auch die Schneefälle am 5. und 6. (wobei es am 6. zuerst noch regnet).

Wkarte1 Wetterlage vom 6. bis 8. November 1933; sehr ähnlich dürfte die Wetterlage vom 4. bis 6. November 1812 über Europa ausgesehen haben.

Nach dem 4. steigt aber über Skandinavien der Luftdruck wieder an – und wird das auch weiter tun bis zum 13., nur mit einer kurzen Unterbrechung am 10. (siehe Abb. 5). Es entsteht somit ein kräftiges Hochdruckgebiet über Skandinavien und Nordrussland. Zusammen mit dem nach Osten abziehenden (bzw. sich an Ort und Stelle auffüllenden) Tief wird dadurch arktische/sibirische Kaltluft nach Westen gesaugt. Ist dieser Kaltluftvorstoß in Stockholm noch moderat, fällt er in St. Petersburg schon deutlich heftiger aus: am 7. fällt die Temperatur schon stark und erreicht am 9. im Tagesmittel fast -10°C. Vollkommen parallel die Temperaturentwicklung bei Napoleons Truppen (siehe Wettertagebuch). In Wilna hingegen fällt die Temperatur nur wenig, bleibt tagsüber sogar mehrere Grade über Null und auch nachts herrscht dort nur leichter Frost! Aber zu dieser Zeit ist Napoleons Armee noch mehr als 400 km (Luftlinie) von Wilna entfernt.

Aufbau eines Kältehochs zwischen dem 9. und 14. November

Am 10. erkennt man im Stockholm-Diagramm einen kleinen Luftdruck-Einbruch; diese Störung (kleines Tief?) erreicht einen Tag später St. Petersburg, erkennbar an dem plötzlichen Anstieg der Temperatur um 4°C, die aber nur einen Tag später wieder anfängt kräftig zu sinken. Am 11. aber leider keine "Wettermeldung" aus der Smolensker Gegend. Die stark fallenden Temperaturen in St. Petersburg (siehe unten in der Diagramm-Sektion; ACHTUNG: die Nachtwerte dürften ca. 5 - 7°C tiefer liegen!) finden ihre Entsprechung in den tiefen Werten unter -20°C in Smolensk, wie sie dort bei der Armee gemessen wurden. Bis zum 15. steigt der Luftdruck weiter an, während er umgekehrt aber über West- und Mitteleuropa fällt: Großwetterlage somit ein Hochdruckgebiet über Skandinavien und Nordrussland (Typ "Hoch Fennoskandien"), das aus O-NO sehr kalte Luftmassen ins Baltikum und Nordrussland führt, während West- und Mitteleuropa zunehmend unter atlantischen Tiefdruckeinfluss geraten. So meldet Augsburg am 14. stürmischen Westwind. Auch Wilna liegt jetzt im Einflußbereich des Fennoskandischen Hochs: ab dem 12. fängt die Temperatur dort stark an zu fallen; so erreichen die Tageshöchstwerte zwischen dem 13. und 15. nur noch -5 bis -7°C und nachts fallen die Temperaturen bis auf -13, -14°C. Zu diesem Zeitpunkt ist Napoleons Armee immer noch mehr als 400 km von Wilna entfernt und befindet sich somit im Bereich noch kälterer Luftmassen (siehe Abb. 7). Abb. 7 zeigt eine relativ analoge Wetterlage aus dem November des Jahres 1902 – damals allerdings lag der Druck des Hochs über Skandinavien höher als 1812, während andererseits das Temperaturniveau in ganz Europa höher war. Aber der prinzipielle Ablauf war wohl der gleiche: das Tief am 4. 11. 1902 entspricht der Störung über Skandinavien/Nordrussland am 11. 11. 1812, was in St. Petersburg den deutlichen Temperaturanstieg bewirkte. Das sich entwickelnde Tief vor der Küste Englands und Frankreich bewirkt, dass sich über West- und Mitteleuropa zunehmend eine südwestliche Strömung aufbaut (man beachte den Temperaturanstieg auf +10°C in London und Augsburg ab dem 13. 11. 1812), die verhindert, dass sich das Skandinavienhoch weiter nach Westen ausdehnen kann.

Wkarte1 Wetterlage vom 4. bis 6. November 1902; sehr ähnlich dürfte die Wetterlage vom 11. bis 13. November 1812 über Europa ausgesehen haben.

Das Tauwettertief vom 15. - 18. November

Auffallend ist dann der tiefe Luftdruck vom 16. - 18. November: zuerst bricht der Druck über London ein, mit etwa einem Tag Verzögerung dann auch über Mailand und noch einen Tag später sinkt auch über Stockholm der Druck kräftig. Die Wetterdiagramme von Augsburg und Wien bestätigen ebenfalls diesen Einbruch, dort mit Tiefpunkt am 19. 11. Mit Ausnahme von Stockholm ist dieser Druckabfall an allen erwähnten Stationen mit einem Temperaturanstieg verbunden. Alles deutet somit auf ein vom Atlantik kommendes Tief hin, das über Großbritannien hinweg auf östlichem Kurs dann über Europa zieht. Während London (um +6°C) und Augsburg (um +5°C) in diesem Zeitraum keine nennenswerten Temperaturänderungen zeigen, steigt sie in Wien deutlich an (bis auf +14°C) – Wien liegt somit voll im Warmsektor des Tiefs, während sein Kern nördlich vorbeizieht, aber noch südlich von Stockholm. Dieses markante Tief (Luftdruck über Mitteleuropa bei nur 990 hPa) zieht dann Kurs ONO weiter nach Russland. Tatsächlich verzeichnet das "Wettertagebuch" für den 16. schon deutlich milderes Wetter (in St. Petersburg vom 15. auf den 16. markanter Temperaturanstieg, ebenso in Wilna - dort positive Temperaturen bis +5°C) und am 17. und 18. 11. dann Tauwetter: der dicke Nebel am 18. ist ganz typisch, wenn von einem Tief herangeführte milde Luftmassen über eine schneebedeckte Landschaft aufgleiten. Aber auf der Rückseite des Tiefs fließt dann von Norden her wieder kältere Luft ein – daher dann auch am Abend das windige und mit Schneefällen verbundene Wetter in Dubrovna.

Ausdehnung des Nordosteuropäischen Hochs nach Westen, 19. - 25. November

In den Folgetagen steigt praktisch europaweit der Luftdruck deutlich an, verbunden mit weiträumig sinkenden Temperaturen: das Nordosteuropäische Hoch dehnt sich nach Westen auf, es fliesst nun zunehmend kältere Luft aus östlichen Richtungen vor allem nach Mitteleuropa, aber in abgeschwächter Form auch bis nach Westeuropa ein. Während nun aber auch nach dem 22. der Luftdruck in West- und Mitteleuropa weiter ansteigt, bricht er über Skandinavien stark ein, erreicht am 24. dort einen Wert von rund 1003 hPa während gleichzeitig in Mitteleuropa noch ein Druck von 1032 hPa (Augsburg) gemessen wird!

Das Beresina-Tauwetter, 21. - 27. November

Der starke Druckabfall über Skandinavien nach dem 22. ist dort gleichzeitig verbunden mit einem ebenso starken Temperaturanstieg, den man auch in St. Petersburg beobachtet – wir befinden uns nun im berühmt-berüchtigten "Beresina-Tauwetter", das das Zufrieren der Beresina verhinderte und dadurch die napoleonischen Truppen zum Brückenbau zwang. Aber welche Wetterlage war damit verbunden? Der erste Impuls bei der Kombination "Luftdruck einbrechend über Skandinavien, aber noch hoch über Mitteleuropa" ist, ein Tief anzunehmen, dass von Westen kommend über Skandinavien nach O-NO zieht und dabei auf seiner Vorderseite milde Luft mit sich führt. Aber so einfach ist die Sache wohl nicht gelagert, denn zum einen scheint sich das Tauwetter über Nordwestrussland langsam von Süd nach Nord vorzuarbeiten: am 21. setzt im Beresina-Raum starkes Tauwetter ein, das bis zum 23. fortdauert; St. Petersburg und Stockholm melden da noch unverändert tiefe Temperaturen und hohen Luftdruck, erst ab dem 23. ändert sich dies langsam dort. Am 25. und 26. erreicht das Tauwetter dann in diesen beiden Städten seinen Höhepunkt (und der Luftdruck seinen Tiefpunkt), während im Süden, an der Beresina, die Temperaturen wieder zurückgehen – allerdings schwankend: Schneefälle und Tauwetterphasen scheinen sich dort mehrmals abzuwechseln. Auch noch am 27.: der Tag beginnt mild und endet mit kräftigem Schneefall! Am 26. geht aber über Stockholm die Temperatur kräftig zurück, Petersburg folgt dann mit einem Temperaturabsturz am 27. Den 27. kann man daher als Endpunkt der Tauwetterphase ansehen.

In Mitteleuropa aber zeigen ausgerechnet die Tage vom 21. - 27. den ersten ernsthaften Wintereinbruch dieses Novembers! Die Temperatur fällt kräftig (in Augsburg wird am 24. ein Tiefstwert von -12°C gemessen und vom 22. - 26. herrscht Dauerfrost) und zumindest im südöstlichen Mitteleuropa treten verbreitet Schneefälle auf (vor allem am 20. und 21.), so in Augsburg, Prag, Wien, Breslau. Etwa am 27. endet dieser erste echte Wintereinbruch in Mitteleuropa.

Gesucht ist also eine Wetterlage, die in Mitteleuropa einen Wintereinbruch bewirkt bei hohem (!) Luftdruck und gleichzeitig über Nordosteuropa/Schweden ein von Süd nach Nord voranschreitendes Tauwetter, verbunden mit tiefem Luftdruck. Diese Kombination ist selten und "wettertechnisch" nicht so leicht hinzubekommen! Zwei mögliche Konstellationen gibt es, die sich sehr voneinander unterscheiden – aber wegen mangelnder Daten kann vorerst (bis zur Erschließung weiterer Wetter-Informationen) nicht entschieden werden, welche damals vorlag.

Wkarte1 Nordmeertief-Variante: Wetterlage vom 19. bis 22. Dezember 1930; sehr ähnlich könnte die Wetterlage vom 20. bis 25. November 1812 über Europa ausgesehen haben.

Die Nordmeertief-Variante: Abb. 8 zeigt den prinzipiellen Ablauf dieser Wetterlage; das Beispiel stammt aus dem Dezember 1930 und stimmt natürlich nicht 1:1 mit der Lage vom 20. - 25. 11. 1812 überein, aber so in etwa könnte es sich abgespielt haben: am 20. 11. liegen noch sehr kalte Luftmassen über dem NW Russlands; weiter im Osten erkennt man ein starkes Kontinentalhoch, dass schon eine Hochdruckbrücke über Mitteleuropa hinweg bis nach England hin aufgebaut hat: von Osten her fließt Kaltluft nach Westen ein. Gleichzeitig aber sieht man am oberen Kartenrand, wie am 20. und 21. ein Nordmeertief von West nach Ost zieht und auf seiner Vorderseite einen ersten Schwung relativ milder Luft nach Skandinavien und am 21. auch ins Baltikum leitet: die bisher dort lagernden sehr kalten Luftmassen werden nach Osten abgedrängt. Dem entgegen steht allerdings, dass in Danzig [18] die Temperaturen in etwa konstant bleiben (leicht negativ), in Wilna sogar deutlich zurückgehen, so dass sich dort wieder Dauerfrost einstellt! Am 23. nähert sich von Westen kommend ein weiteres Tief Skandinavien, diesmal auf südlicherer Bahn; der Zustrom milderer Luft in die Region bleibt so erhalten und erreicht am 25. 11. seinen Höhepunkt, als der Kern des Tiefs über der östlichen Ostsee liegt: Tauwetter in St. Petersburg! Jetzt auch in Wilna ... Gleichzeitig aber bleibt während dieser Tage die Hochdruckbrücke über Mitteleuropa erhalten, es fließt aus Osten weiterhin kalte Festlandsluft bodennah ein. Vor allem das südöstliche Mitteleuropa kriegt noch ziemlich kalte Luft zu spüren, weiter nach Westen hin (Frankreich, Belgien, England) ist der Kaltlufteinbruch schon deutlich schwächer ausgeprägt. Das Tief über dem Mittelmeer schiebt in der Höhe feuchte milde Luft Richtung Alpenraum, Süddeutschland und Tschechien, die auf die dort liegende Kaltluft aufgleitet und verbreitet zu (meist leichten) Schneefällen führt. Soweit diese Variante! Sie passt, was die Luftdruckverteilung über Europa angeht, ziemlich gut zu den damaligen Messwerten. Die doch etwas stärkeren Schneefälle in Mitteleuropa am 21. erfordern aber wohl ein stärkeres und etwas östlicher und alpennäher liegendes Mittelmeertief als das in den Karten gezeigte. Größtes Problem dieser Variante ist aber, dass das Tauwetter im Nordosten Europas nicht unbedingt von Süd nach Nord voranschreitet (wie im November 1812 ja beobachtet), sondern eher von West nach Ost!

Wkarte1 Mittelmeertief-Variante: Wetterlage vom 12. bis 15. Februar 1956; sehr ähnlich könnte die Wetterlage vom 20. bis 25. November 1812 über Europa ausgesehen haben.

Die Mittelmeertief-Variante: Abb. 9 zeigt den prinzipiellen Ablauf dieser Wetterlage; das Beispiel stammt aus dem Februar 1956 und stimmt natürlich nicht 1:1 mit der Lage vom 20. - 25. 11. 1812 überein, aber so in etwa könnte es sich abgespielt haben: am 20. 11. liegen noch sehr kalte Luftmassen über dem NW Russlands; weiter im Osten erkennt man ein starkes Kontinentalhoch, von dem sich noch eine Hochdruckbrücke bis Mitteleuropa erstreckt. Gleichzeitig aber hat sich ein aus dem Mittelmeerraum kommendes Tief (bzw. ein Ableger des Tiefs über dem westlichen Mittelmeer) Richtung NO in Bewegung gesetzt; am 20. liegt es über dem Balkan, und zusammen mit dem Osthoch wird nun kalte Kontinentalluft an seiner Nordseite nach Mitteleuropa gelenkt. Am 21. verstärkt sich dieses Tief noch: von Nordosten her fließt zunehmend kältere Luft vor allem ins südliche Mitteleuropa ein und wegen der Nähe zum Tief und dem hohen Feuchtegehalt der Luft in der Höhe (das Balkantief verfrachtet ja feuchte Mittelmeerluft nach Norden!) kommt es dort zu Schneefällen. Auf seiner Ostflanke aber lenkt dieses Tief in zunehmendem Maße milde Mittelmeerluft weit nach Norden: über Osteuropa setzt nun ein von Süd nach Nord hin fortschreitendes Tauwetter ein! Das Tief verlagert sich im weiteren Verlauf weiter nach Norden und liegt am 25. 11. mit seinem Kern über dem Baltikum; das Tauwetter hat nun auch Stockholm und St. Petersburg erreicht! An seiner Westflanke aber wird in einem weiten Bogen über die Barentssee und Norwegen immer noch kalte Luft nach Mitteleuropa hinein gelenkt. Soweit diese Variante! Sie passt, was das Fortschreiten des Tauwetters über Nordosteuropa betrifft, recht gut zum beobachteten Verlauf von 1812. Größtes Problem dieser Variante ist aber, dass die Luftdruckverhältnisse über West- und Mitteleuropa nicht gut getroffen sind: das am linken Kartenrand zu erkennende Atlantikhoch müsste weiter nach Westen, bis über England geschoben werden und das auf der letzten Karte zu sehende Tief just über Mitteleuropa müsste natürlich ganz weggenommen werden...

Beim momentanen Stand der Datenlage bevorzuge ich Version 2. Version 1 passt zwar besser zum generellen Verlauf des Novembers 1812 mit seiner regen Tiefdrucktätigkeit über Nordeuropa, aber die Temperaturentwicklung in Danzig [18] und Wilna vom 20. - 23. spricht stark gegen diese Version. Andererseits passt diese sehr viel besser zu Version 2 und ebenso die leicht über dem November-Normalwert liegende Temperatur von Kiev, denn bei solcher Wetterlage würde besonders die Ukraine die von Süden einfließende Luft zu spüren bekommen. Hätte man Messwerte des Luftdrucks aus der Ukraine und/oder dem (östl.) Balkan wäre die Frage geklärt – so aber muss sie leider offen bleiben!

Die Rückkehr des Kältehochs: 27. - 30. November - ein Märchen!

Der 27. ist der Übergangstag von der Tauwetterperiode zu einer Rückkehr der Kälte. Seit dem 26. steigt über Skandinavien der Luftdruck wieder stark an; am 27. fällt dann in St. Petersburg die Temperatur wieder im Tagesmittel auf rund -4°C, um dann am 29. so richtig abzustürzen, auf -10°C im Tagesmittel. "Und bei Napoleons Truppen werden in der Nacht zum 30. zum ersten Mal die -30 gemessen" - so stand es hier in der letzten Fassung von 2012, noch ohne Kenntnis der in Wilna gemessenen Temperaturen, die ja nun, da Napoleons Armee nur noch 150 km von der Stadt entfernt ist, zunehmend relevant werden. Am 30. 11. aber lagen in Wilna die Höchstwerte um 0°C und die Tiefstwerte allenfalls bei -5°C - völlig unmöglich, dass nur etwas weiter östlich nachts die Temperaturen auf -30°C gefallen sein sollen! Zumal sie am 1. und 2. Dezember sogar noch etwas höher lagen. Und auch in St. Petersburg stiegen am 30. 11. und 1. 12. die Temperaturen wieder stark an, bis auf 0°. Dazu passend fängt in Schweden der Luftdruck schon wieder an zu fallen ... Tatsächlich wurden die -30° auch nicht von Larrey gemessen; nach seinen Messungen lagen zwischen dem 28. 11. und dem 4. 12. die Temperaturen nie tiefer als -15°C, und letztere kommen wohl erst ab dem 4. 12. vor. Das Kältehoch kommt zwar - aber erst ab dem 4. 12. Nachfolgende Abb. 10 zeigt den Temperaturverlauf des Novembers in Wilna; einen Vergleich der Wilnaer Temperaturen von Ende Oktober - Ende Dezember mit denen, die von Napoleons Truppen gemessen wurden, findet man auf der Dezember-Seite (Abb. 5). Fortsetzung im Dezember!

Wilna-1812-November Tägliche Höchst- und Tiefstwerte der Temperatur im November 1812 in Wilna.

Wenn man nun nicht annimmt, dass die (langjährigen) Meßreihen von Wilna und St. Petersburg für den 30. 11. (und auch die folgenden zwei Tage) krass fehlerhaft sind, so bleibt im Umkehrschluß nur, dass die Berichte aus Napoleons Truppe für diese Tage, jedenfalls was die extreme Kälte betrifft, völlig falsch sind. Wie kann man das erklären? Hier kommt man natürlich leicht ins Spekulieren und Psychologisieren - aber ein kleiner Versuch sei statthaft: Ich vermute, dass die ja schon extrem geschwächte Truppe in diesen harten letzten Feldzugswochen kaum mehr in der Lage war, jedes erinnertes (bzw. auch gemessenes) Ereignis (Temperatur) immer dem richtigen Datum zuzuordnen. Der 30. November liegt ja nur wenige Tage vor der nun wirklich schrecklichen und extremen Kältewelle des Dezembers - da wurde vielleicht einfach die Kälte zeitlich etwas zurückprojiziert. Und Mitte November war es ja auch schon sehr kalt, und seit Wochen schon stapften sie tagaus, tagein durch eine schneebedeckte Landschaft, dabei hungernd und frierend und gleichzeitig immer um ihr Leben kämpfend gegen russische Attacken - da sind Erinnerungsfehler eigentlich zwangsläufig.

Dies ist übrigens nicht der einzige Fall aus den napoleonischen Feldzügen, dass krass falsche Temperaturangaben überliefert wurden. Als weiteres Beispiel sei die Schlacht von Preußisch Eylau am 8. Februar 1807 genannt: in den meisten Büchern und Online-Quellen zu dem Thema wird übereinstimmend berichtet von der klirrend kalten Nacht vom 7. auf den 8. Februar, die alle Soldaten im Freien verbringen mussten und in der die Temperatur auf -30°C fiel. Dazu soll es auch noch heftig geschneit haben. Nach so einer Nacht wären wohl am nächsten Morgen nicht mehr allzu viele zum sich gegenseitig Abschlachten übrig geblieben ... Eine Analyse der Großwetterlage und der Wetterdaten von Danzig, Stockholm, St. Petersburg, Warschau und Wilna zeigt aber nun ein gänzlich anderes Wetterbild: der Winter 1806/7 war, gerade auch in Polen, Ostpreussen und dem Baltikum, durchgehend sehr mild! Sehr genaue Daten gibt es aus Danzig [18]: in der Nacht vom 7. auf den 8. Februar 1807 lag die Tiefsttemperatur dort bei etwa +1°C, gegen Mittag des 8. wurden fast +2°C gemessen! Bis zum Abend, um 22 Uhr, fiel das Thermometer auf knapp -1°, um am Morgen des 9. einen Tiefstwert um die -3°C zu erreichen. Also doch ein klein wenig von -30°C entfernt ... Im Landesinnern bei Eylau (70 m hoch gelegen, aber eigentlich auch noch recht meernah) war es sicher ein paar Grad kälter, aber nicht viel. Das zeigen nämlich die ebenfalls für die Jahreszeit recht hohen Temperaturen von Wilna (-0.5 bzw. -2.5°C Tagesmittel) und Warschau (-2 bzw. -4° Tagesmittel) für den 7. und 8. Februar. Im Falle von Eylau halte ich als Erklärung für die riesige Diskrepanz maßlose Übertreibung für am wahrscheinlichsten: Napoleon hatte die Schlacht ja nicht gewonnen, vielmehr ging sie eher "unentschieden" aus (ein allerdings sehr blutiges Spiel) - da kam es wohl Napoleon sehr recht, widrige Wetterumstände für den verpassten Sieg verantwortlich zu machen!

6. Die Schneefälle im November 1812

Napoleon selbst hat öfters erwähnt, wie gerade diese Tage vom 5. - 7. November seine Truppe angegriffen und die Wende zum Schlechten eingeleitet hätten. Die Kombination aus eisigem Wind, tiefen Temperaturen und starken Schneefällen war zuviel für die schlecht ausgerüsteten und schlecht ernährten Truppen. Aber war das jetzt, wie Napoleon meinte, ein einzigartiges Pech? Oder war dieses Wetter normal für die Gegend und Jahreszeit? Dass der November deutlich zu kalt ausfiel, wurde in Kapitel 1 ja schon diskutiert – auch, dass just um 1812 herum mehrere solch kalte November in Nordwestrussland auftraten – dies also kein einzigartiges Ereignis! Auch ein Tiefdruckgebiet wie das vom 5. -7., dass auf seiner Rückseite in Kombination mit einem sich aufbauenden Nordmeerhoch arktische Kaltluft heranführt, ist nichts außergewöhnliches, kommt vielmehr in fast jedem Winter dort oft mehrfach vor. Auch eisige, kräftige Winde sind normal für solche Wetterlagen. Nicht normal aber wären solch starke Schneefälle, wie sie speziell vom 6. November berichtet werden: 60 cm sollen an diesem Tag gefallen sein!

Regen11 Zusammenhang zwischen Tageshöchsttemperatur und gefallenem Niederschlag in Wilna, für alle Novembertage im Zeitraum 1900 - 1998: jeder Tag mit Niederschlag ein blauer Punkt, dessen Position durch die Menge des Niederschlags (horizontale Achse) und die Höchsttemperatur dieses Tages (vertikale Achse) festgelegt wird.

Abb. 11 zeigt für Wilna für das 20. Jahrhundert und den November den Zusammenhang zwischen gefallener Niederschlagsmenge und Tagestemperatur, für jeden Novembertag (also insgesamt 2970 Tage). Offensichtlich gilt die Regel: je kälter es ist, umso weniger Niederschlag fällt! (Übrigens eine allgemeingültige Regel.) Bei Temperaturen unter 0°C fallen meist nur wenige mm pro Tag (was umgerechnet wenige cm Schnee bedeutet); das Spitzenergebnis liegt bei 16 mm, was eine Schneedecke zwischen 16 und höchstens 32 cm ergibt – und dieser Wert steht schon recht einsam im Jahrhundert da! Und mehr als 10 mm Niederschlag an einem Eistag (T ganztägig < 0°C) fielen überhaupt nur dreimal im November in diesem langen Zeitraum von 99 Jahren. Folgende Tabelle gibt nun für die relevanten Orte die Häufigkeiten von Tagen mit starkem (mehr als 10 mm Niederschlag) und mäßigem Schneefall (mehr als 5 mm Niederschlag) an sowie die Wahrscheinlichkeit dafür, dass im Laufe eines Novembers mindestens ein solcher Tag eintritt (Spalten "P(N>10 mm)" und "P(N>5 mm)") – schließlich war die Armee ja den ganzen November in diesem Gebiet zwischen Wilna und Moskau unterwegs. In der Spalte "Maximalwert" ist jeweils die höchste an einem Eistag (Tmax < 0) gefallene Menge für den gesamten Zeitraum eingetragen.

Ort Zeitraum Maximalwert Tage mit mehr als 10 mm P(N>10 mm) Tage mit mehr als 5 mm P(N>5 mm)
Wilna 1900 - 1998 16 mm 3 3 % 16 15 %
Smolensk 1944 - 1998 12 mm 3 5,3 % 20 30 %
Moskau 1948 - 1998 17 mm 10 18 % 20 33 %
St. Petersburg 1881 - 1998 18 mm 11 9 % 56 38 %

Interessanterweise nimmt also die Niederschlagswahrscheinlichkeit von West nach Ost zu! Die 18 % Eintrittswahrscheinlichkeit für zumindest einen Tag mit starkem Schneefall bei Moskau sind ja gar nicht mal so klein; allerdings wird im Laufe des Novembers an mehreren Tagen von starkem Schneefall berichtet, mit Höhenangaben des gefallenen Schnees von 60 cm am 6. und 30 - 40 cm am 27.! Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass man sich zweimal im November Tage mit starkem Schneefall ( > 10 mm pro Tag) einfängt, beträgt selbst in der niederschlagsreichen Gegend von Moskau nur 1,5 %. Die 60 cm vom 6. 11. 1812 wären sowieso ein singuläres Ereignis, auf jeden Fall eines, das allenfalls einmal im Jahrhundert in einem November auftritt! Hat man sich also durch Schneeverwehungen täuschen lassen (die bei starkem Wind sehr schnell und verbreitet entstehen) oder übertreibt man? Oder hatte man tatsächlich solch ein extrem seltenes Wetterpech? Die Frage muss vorerst offen bleiben.


7. Wetterdiagramme

Richtig "erfühlbar" wird das Wetter jenes November 1812 aber erst durch den Gang der Witterung für jeden Tag des Monats an einen Ort: wie hoch die tägliche Temperatur war, ob es geregnet hat, wie bewölkt es war, woher der Wind wehte usw. Die folgende Tabelle zeigt für 11 Orte solche Wetterdiagramme (ein Klick auf jedes Diagramm öffnet ein neues Fenster, in dem eine größere Version des Diagramms gezeigt wird). In den gezeigten meteorologischen Parametern unterscheiden sich die Diagramme teilweise voneinander – denn je nach Station liegen unterschiedliche Beobachtungen vor: mal nur die mittlere tägliche Temperatur, dann wieder Temperaturen um 8 Uhr und um 15 Uhr, mal wurde der Luftdruck gemessen, mal nicht usw. Die Anordnung der Orte in der Tafel erfolgt alphabetisch, von links nach rechts, dann nächste Zeile usw.

Augsburg Berlin Breslau
Wien London Mailand
St. Petersburg Prag Stockholm

Bei einem Mausklick auf ein Diagramm wird es in einem separaten, an die Bildschirmgröße angepassten Fenster geöffnet. In den meisten Diagrammen ist auch für jeden Tag des Monats die Tagesmitteltemperatur eingetragen, und zwar immer gemittelt über einen 30-Jahres-Zeitraum. So kann man sofort sehen, wie sehr die an einem bestimmten Tag gemessene Temperatur vom langjährigen Mittelwert für diesen Tag abweicht. Die 30-Jahresperiode wurde dabei so gewählt, dass sie möglichst nahe der heutigen Zeit zu liegen kommt (von Station zu Station schwankt der Zeitraum etwas).


8. Besondere Wetterereignisse im November 1812

Hier werden die "üblichen" besonderen Ereignisse, wie starke Stürme, verheerende Überschwemmungen, Hitze- und Kältewellen, Dürren, zerstörerischer Hagelschlag, enorme Schneefälle usw. europaweit aufgelistet, in Form einer Tageschronologie, soweit möglich. Gibt es in einem Monat Ereignisse ohne konkret zuordenbares Datum, werden sie unter dem Monatsnamen am Ende der Liste eingetragen. Dank dieser Liste erhält man einen schnellen Überblick, was wann wo in Europa passiert ist.

3. 11.: In der Nacht zum 4. Erdbeben im Raum Venedig mit Gebäudeschäden
5. 11.: Beobachtung einer Feuerkugel abends übe Aarhus, die in viele Einzelstücke zersprang
15. 11.: Feuerkugel (?) bei trübem Himmel über Berlin: heller Blitz ohne Donner, war auch über Süddeutschland zu sehen
17. 11.: In Wien werden fast +14°C gemessen.
19. 11.: In Prag fallen 31 mm Regen
18. 11.: Überflutungen nördlich von Pisa
22. 11.: Erneut eine Feuerkugel über Berlin im NW, abends um 18 Uhr
30. 11.: Berlin meldet dicken Nebel und "Staubregen"

Zugegeben, das sind nicht gerade die spannendsten Ereignisse, aber natürlich ist auch diese Liste noch ausbaufähig!






BILDNACHWEIS:

Bild 1: W. Rammacher, unter Benutzung von Daten aus [9]

Bilder 2, 3: W. Rammacher, unter Benutzung von Daten aus [4], [6]

Bild 4: W. Rammacher, unter Benutzung von Daten aus [1], [11]

Bild 5: W. Rammacher, unter Benutzung von Daten aus [1]

Bild 6, 7, 8, 9: W. Rammacher, unter Benutzung von Daten aus [12]

Bild 10: W. Rammacher, unter Benutzung von Daten aus [17]

Bild 11: W. Rammacher, unter Benutzung von Daten aus [4]

Wetterdiagramme: W. Rammacher, unter Benutzung von Daten aus [1], [3], [4], [5], [8], [11], [13]

Bildergalerie: Sabine M. El-Helou, mit freundlicher Genehmigung


BENUTZTE LITERATUR / ONLINE-QUELLEN:

[1] Camuffo,D., Jones, P. (Hrsgb.): "Improved Understanding of Past Climatic Variability from Early Daily European Instrumental Sources", Kluwer Academic Publishers, 2002

[2] Cornes, Richard C.: "Early Meteorological Data from London and Paris", Thesis, University of East Anglia, 2010

[3] Das Klima von Berlin (II) - Temperaturverhältnisse , Abhandlungen des Meteorologischen Dienstes der DDR Nr. 103 (Band XIII), Akademie-Verlag, Berlin 1971

[4] European Climate Assessment & Dataset (ECA&D)

[5] Galle, J. G. (Hrsgb.): "Grundzüge der schlesischen Klimatologie", Breslau, 1857

[6] GHCN-Klimaarchiv

[7] Gronau, Karl Ludwig , in "Der Gesellschaft naturforschender Freunde zu Berlin Magazin für die neuesten Entdeckungen in der gesamten Naturkunde" (Berlin 1813), S. 243 - 249

[8] Littrow, Carl von: "Meteorologische Beobachtungen an der K. K. Sternwarte Wien von 1775 bis 1855", Band 3, Wien 1862

[9] Luterbacher, J., et al.: "Sea Level Pressure Reconstructions, Eastern North Atlantic and Europe", 2001, IGBP PAGES/World Data Center A for Paleoclimatology, Data Contribution Series #2001-086. NOAA/NGDC Paleoclimatology Program, Boulder CO, USA.

[10] Luterbacher, J., et al.: "Reconstruction of Sea Level Pressure fields over the Eastern North Atlantic and Europe back to 1500", Clim. Dyn., 18 (2002), S. 545 - 561

[11] Meteorological Journal, in: "Philosophical Transactions of the Royal Society London", 1813, Vol. 103, S. 1-26

[12] NCEP/NCAR Reanalysis 1

[13] Stark, Augustin: "Meteorologische Beobachtungen - 1. Jahrgang 1812", Augsburg 1813

[14] CRU Time Series, University of East Anglia Climatic Research Unit (CRU)

[15] Larrey, Dominique-Jean: "Memoires de chirurgie militaire et campagnes", Tome 4, Paris 1817

[16] Arago, Francois: "Sämmtliche Werke", Band 8, Leipzig, 1860

[17] E. Wahlen: "Wahre Tagesmittel und tägl. Variation der Temperatur an 18 Stationen des russischen Reiches", St. Petersburg, 1886

[18] Kleefeld: "Meteorologische Beobachtungen angestellt zu Danzig in den Jahren 1807 bis 1830", in: "Neueste Schriften der Naturforschenden Gesellschaft in Danzig", Band 2, 1831

(Für die benutzten nicht-meteorologischen Quellen siehe Literaturverzeichnis der Hauptseite)





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Letzte Änderung der Seite: September 2018

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