Napoleon und das Wetter 1812
Napoleon und das Wetter 1812
 

Das Wetter im Dezember 1812

Wetterkarte Mittlerer Luftdruck (auf Meeresniveau reduziert) im Dezember 1812; der Abstand der Isobaren (weiß eingezeichnet) beträgt 1 hPa

1. Monats-Überblick

Ende November fiel die Temperatur stark ab; den 30. kann man als den ersten Tag der sich anbahnenden neuen Kältewelle betrachten, die diejenige von Mitte November noch weit übertreffen sollte! Laut Messungen von Ärzten der napoleonischen Truppen fielen dabei die Temperaturen mehrfach unter -30°C, mit dem absoluten Tiefstwert von -37°C. Der genaue Ablauf des Wettergeschehens kann man hier in den Kapiteln 3 - 5 nachlesen. Bevor ich auf die in Abb. 1 gezeigte mittlere Luftdruckverteilung dieses Dezembers eingehe, will ich aber noch kurz die Frage diskutieren, wie relevant diese Eiseskälte eigentlich noch für den Feldzug war. Denn Ende November, nach dem Beresina-Übergang, waren die napoleonischen Truppen als kampffähige Armee nicht mehr länger existent. Spielte es da noch eine Rolle, dass bis zum Erreichen der Grenze am 13./14. Dezember noch ein Großteil der Männer (und Frauen im Tross) direkt erfror oder durch Nahrungsmangel und Erschöpfung in Kombination mit der Kälte umkam?

Tatsächlich gibt es Historiker, die diese letzten zwei Wochen des Feldzugs als militärisch bedeutungslos ansehen. Aber mal davon abgesehen, dass der gewaltsame Tod von zehntausenden von Menschen nie bedeutungslos ist (und deshalb sollte man den ganzen Feldzug von 1812 hauptsächlich als ungeheure humanitäre Katastrophe ansehen), so beeinflusste die extreme Kälte im Dezember doch auch den militärischen Ablauf der Ereignisse ganz erheblich: Denn eigentlich sollten der sich zurückziehenden Armee laufend Verstärkungen zugeführt werden und auch in Wilna sollte die Besatzung so verstärkt werden, dass dann mit der dort eintreffenden napoleonischen Armee eine sichere Verteidigungsstellung errichtet werden konnte und Winterquartier dort gemacht werden sollte. Der Vormarsch der russischen Armee wäre bei Wilna dann zumindest bis ins Frühjahr hinein gestoppt worden und die Kriegsgeschichte des Jahres 1813 wäre zumindest anders abgelaufen. Aber soweit kam es nie: zwar waren in Wilna (und auch in Kaunas) die Vorratslager wieder gut aufgefüllt worden und es trafen dort auch frische Truppenkontingente ein – die aber wiederum nicht für einen extremen russischen Winter ausgerüstet waren und deshalb fast so rasch der herrschenden Kälte zum Opfer fielen wie sie dort eintrafen! Das Schicksal der 10000 Mann der Loison-Division führt das drastisch vor Augen: ab dem 5. zwischen Wilna und der sich nähernden napoleonischen Armee im Einsatz, waren am 9. schon fast alle tot, erfroren in ihren leichten Sommeruniformen in den Nächten mit Temperaturen unter -30°C! Wie viele Verstärkungen noch auf dem Marsch Richtung Osten umkamen, bevor sie überhaupt an der "Front" eintrafen, ist meines Wissens nach noch nicht wirklich untersucht, sofern das überhaupt noch möglich ist. Jedenfalls ging das große Sterben im Gebiet des heutigen Polens und Ostpreußens noch den ganzen Dezember und Januar über weiter, in dem Chaos der sich dann weitgehend ungeordnet zurückziehenden Überlebenden der "Grande Armée", der umherirrenden Versprengten (Zivilisten und Soldaten), der meist hilflosen Verwundeten und der erst neu im Gebiet Eintreffenden – alle im tödlichen Griff der unvermindert andauernden eisigen Kälte...

Abb. 1 zeigt die mittleren Luftdruckverhältnisse (wie üblich immer reduziert auf Meeresniveau) über Europa für den Dezember 1812. Man erkennt gut ausgeprägten tiefen Luftdruck über dem Mittelmeer und im Westen über Großbritannien eine Hochdruckzelle, die über eine Hochdruckbrücke mit dem russischen Hoch (rechter Bildrand, Mitte) verbunden ist. Über Skandinavien und Nordrussland dominiert dann wieder tiefer Luftdruck. Im Gegensatz zum November 1812 ist dies nun auch für West- und Mitteleuropa eine Strengwinterlage, denn das Osthoch hat (im Monatsmittel!) eine stabile Verbindung zum Westhoch; damit findet im Monatsverlauf immer wieder ein Transport kalter bis sehr kalter Luftmassen aus Russland nach Westen statt und atlantische Tiefs werden meist durch das Westhoch geblockt und können somit nur selten mit milder Luft bis zum Kontinent vordringen. Im Nordosten Europas liegt vor allem der Südteil, also das für den napoleonischen Feldzug bedeutsame Gebiet, zumeist im Einflussbereich des zentralrussischen Hochs, während weiter im Norden, in St. Petersburg, im Monatsverlauf doch mehrmals Nordmeer-Tiefs mit milderen Luftmassen bestimmend werden. Was das für das Wetter in dieser Gegend genau bedeutete, wird weiter unten (Kapitel 3 - 5), bei der Tag-für-Tag-Behandlung des "napoleonischen" Wetters, detailliert diskutiert. Die Lage im Dezember 1812 ähnelt von der mittleren Luftdruckverteilung der des Februars 1956; dieser war ebenfalls europaweit ein extrem kalter Monat, aber 1956 war das Mittelmeertief tiefer und das England-Hoch stärker ausgeprägt, mit der Folge, dass die kalte Ostluft im Monatsverlauf mehrmals sehr weit nach Westen, bis in den Süden Spaniens, transportiert wurde, während im Dezember 1812 West- und Südeuropa von der Kältewelle nur wenig bis gar nicht betroffen waren.

Wie kalt ein Monat ausfällt, hängt aber nicht nur von der Großwetterlage ab; zwar ist eine Luftdruckverteilung wie sie in Abb. 1 gezeigt wird, eine notwendige Bedingung für den sprichwörtlichen "sibirischen Winter" in Europa, aber sie alleine genügt nicht: immer hängt es auch von dem Wetter der vorangehenden Wochen in den Gebieten ab, in denen die extrem kalte Luft erzeugt wird – oder eben auch nicht erzeugt wird, also im arktisch-sibirischen Raum. Im Jahre 1812 existierte natürlich noch kein Messnetz über der Arktis oder Sibirien, aber ganz offensichtlich bildete sich dort schon im Laufe des Novembers extrem kalte Luft, die dann im Dezember, als die Großwetterlage "passte", angezapft und nach Westen geleitet wurde. Tatsächlich fiel dann der Dezember 1812 in weiten Teilen Europas extrem kalt aus – siehe Kapitel 2. In der Rangfolge der kältesten Dezember belegt der von 1812 in St. Petersburg Rang 7 und in Wilna sogar Rang 2 (Zeitraum 1752 bzw. 1772 - 2010). Erst 1829 trat dort ein fast so kalter (-11°C Monatsmitteltemperatur, 1812 waren es -12,2°C) Dezember wieder auf. Allerdings lag der letzte ähnlich kalte Dezember nicht so lange zurück: in Wilna war das der von 1804 (-11,6°C) und in St. Petersburg der von 1808 (-12,2°C). Ähnlich wie beim November (siehe dort) gilt hier: Napoleon hätte also vorgewarnt sein können ja müssen – denn 1808 war Caulaincourt, nun zweiter Mann im Stab von Napoleon beim Russland-Feldzug, noch Frankreichs Botschafter in St. Petersburg. Oder hat er sich durch die Dezember der Jahre 1809 - 1811 in falsche Sicherheit wiegen lassen? Denn diese drei Dezember fielen sowohl in St. Petersburg als auch in Wilna deutlich zu mild aus – und am meisten derjenige des Vorjahres!

So extrem kalt der Dezember 1812 auch war, es geht noch viel extremer: Der unangefochtene Spitzenreiter als kältester Dezember mindestens der letzten 300 Jahre ist europaweit der des Jahres 1788 – damals betrug in Wilna die Monatsmitteltemperatur nur -18°C! Verglichen damit wirken die -12°C von 1812 geradezu mild... Im Dezember 1788 befand sich der 19jährige Napoleon bei seinem Regiment in Auxonne, einer Stadt nahe Dijon in Frankreich – und in Paris fiel jener Dezember gigantische 10,3°C kälter als normal aus; Rhone, Seine, Loire, Garonne froren zu. Napoleon hatte also mindestens einmal schon am eigenen Leib gespürt, wie extrem kalt ein Dezember werden konnte, und das sogar so weit westlich. Hatte er auch das vergessen? Oder wie ist es sonst zu erklären, dass er eine für den russischen Winter vollkommen ungenügend ausgerüstete Truppe Richtung Moskau führte?


2. Die Abweichungen von Temperatur und Niederschlag vom langjährigen Monatsmittel

Tempkarte Abweichungen der mittleren Temperaturen im Dezember 1812 von den langjährigen Mittelwerten (in °C) der jeweiligen Stationen. Blaue Quadrate: negative Abweichungen (zu kalt), rote Quadrate: positive Abweichungen (zu warm); je größer ein Quadrat, umso größer die Abweichung

Abb. 2 zeigt für zahlreiche Stationen Europas die Abweichungen der mittleren Temperaturen des Dezember 1812 von denen des langjährigen Durchschnitts, immer bezogen auf die jeweilige Station. Lesebeispiel: Warschau hatte im Dezember 1812 eine mittlere Monatstemperatur, die mehr als 9°C (exakt: -9,03) unter den langjährigen für Warschau typischen Dezembertemperaturen lag. Zur Einordnung der Abweichungen: 1°C wärmer oder kälter als der Durchschnittswert gilt als weitgehend normal, bei Abweichungen von bis zu +-2°C spricht man von zu warmen/kalten Monaten, bei noch größeren Werten von deutlich zu warmen/kalten Monaten und bei Abweichungen von mehr als 3°C nach oben oder unten von "sehr warmen" bzw. "sehr kalten" Monaten. Die Karte zeigt, dass der Dezember 1812 in großen Teilen Europas zu kalt ausfällt. Am meisten betroffen von der Kälte dabei ausgerechnet die Gebiete, durch die Napoleons "Grande Armée" ihren Rückzug antreten musste: Baltikum (-4 bis -9°C kälter als normal), Nordwestrussland (St. Petersburg mit -8,39°C Abweichung vom Normalwert) und Weißrussland. Weit im Osten liegt Kasan mit seinen rund -9°C Abweichung vom Normalwert im Gegensatz zum November diesmal sogar tiefer als St. Petersburg oder die baltischen Staaten – ein Hinweis darauf, wo das "Heim" der extremen Kälte zu finden ist. Auch hier wären die Temperaturwerte von Moskau (wieder einmal) sehr von Nutzen – aber es gibt sie halt nicht mehr! England weist nur mäßig große negative Abweichungen auf, Frankreich schon erhebliche, während Zentraleuropa riesige negative Abweichungen aufzuweisen hat.

Karte1 Abweichungen der Niederschlagsmenge im Dezember 1812 von den langjährigen Mittelwerten der jeweiligen Stationen (in % des Normalwertes). Braune Quadrate: negative Abweichungen (zu trocken), blaue Quadrate: positive Abweichungen (zu nass); je größer ein Quadrat, umso größer die Abweichung

Auch sehr bedeutsam für das Wettergeschehen: die Menge des gefallenen Niederschlags. Leider sind Niederschlagsmessungen aus jener Zeit speziell für Ost-Europa nur spärlich überliefert – Abb. 3 zeigt die Messergebnisse für die meisten der verfügbaren Stationen (in West- und Mitteleuropa habe ich einige Stationen der Übersicht halber weggelassen). Angegeben ist, wie viel Prozent mehr oder weniger, verglichen zum langjährigen Normalwert in jenem Dezember 1812 an jeder der Stationen gefallen ist. Auch hier ein Lesebeispiel: in Warschau fielen 55% weniger Niederschlag als dort üblicherweise in einem Dezember fällt, während aber in Toulouse 38% mehr Regen als gewöhnlich fiel. Insgesamt zeigt der Dezember 1812 die für diese Großwetterlage typische Charakteristik: er ist in großen Teilen West-, Mittel- und Osteuropas zu trocken. Bedauerlicherweise gibt es keine Messwerte für das Baltikum und Russland. Niederschlagsmengen können aber leider eine große räumliche Varianz aufweisen, selbst bei eng benachbarten Orten; von daher sind wirklich sichere Aussagen über die Niederschlagsverhältnisse im Dezember 1812 angesichts des dünnen Stationsnetzes nicht möglich. Immerhin spiegelt aber die Niederschlagskarte doch recht gut den Einfluss von Hochs und Tiefs im Monatsmittel wider: Der meist hohe Luftdruck über Westeuropa findet seine Entsprechung in deutlich reduzierten Niederschlagsmengen in jenen Regionen. Andererseits findet man über Südfrankreich und Italien meist etwas über dem Normalwert liegende Niederschlagsmengen – zurückzuführen auf die Nähe zum Mittelmeertief, das im Monatsverlauf oft über der Adria zu liegen kam. Aber auch hier gibt es Ausreißer: Mailand hat etwas weniger Niederschlag als normal, aber besonders auffällig ist Palermo auf Sizilien, denn der Einfluss des Mittelmeertiefs sollte hier eigentlich besonders ausgeprägt spürbar sein – also höhere Niederschläge als normal liefern. Insgesamt aber "passen" wie oben schon erwähnt die gemessenen Werte sehr gut zu dieser Großwetterlage.


3. Wettertagebuch der Truppe

Der Wetterablauf im Dezember lässt sich dank der zahlreichen Berichte der (überlebenden) Feldzugsteilnehmer relativ gut rekonstruieren – umso mehr, da jetzt das Wetter die entscheidende Rolle für das Überleben spielte und deshalb zu entsprechend häufigen Erwähnungen in Tagebüchern und Memoiren führte. Da bleibt es allerdings auch nicht aus, dass man zuweilen auf sich widersprechende Äußerungen stößt; zudem muss man bedenken, dass zwischen Vorhut und Nachhut oft eine größere Strecke lag – nicht mehr so viel wie noch im November, aber noch genügend, dass durchaus unterschiedliche Wettererscheinungen von ein- und demselben Tag gemeldet werden konnten. Ich habe versucht, aus all diesen Berichten einen möglichst konsistenten Wetterablauf ("Wettertagebuch der Truppe") zu erstellen für jeden Tag des Monats, soweit möglich. Im nächsten Abschnitt wird dann versucht, aus diesen Truppen-Wettermeldungen und den 1812 europaweit gemessenen Wetterdaten (siehe Abb. 1 - 3 und die Wetterdiagramme) die damals herrschenden Wetterlagen zu rekonstruieren.

Das folgende "Wettertagebuch" besteht aus drei Spalten; die Spalten "Datum" und "Herrschendes Wetter" bedürfen keiner Erklärung, wohl aber die zweite Spalte "KHQ-Position". "KHQ" ist die Abkürzung für "Kaiserliches Hauptquartier" und "KHQ-Position" bezeichnet somit den Ort, wo sich an jenem Tag Napoleon mit seinem Stab befand bzw. ab dem 6. der Stab ohne Napoleon ("N" steht dann für Napoleon, ohne "N" ist wiederum das "KHQ" gemeint, auch wenn ab dem 6. kein Kaiser mehr dort ist...) – dies, damit man eine grobe Vorstellung bekommt, wo in Russland sich das Geschehen gerade abspielt. "Grob" deshalb, weil der Truppen-Lindwurm ja zeitweise über viele km in die Länge gezogen war!


Datum KHQ-Position Herrschendes Wetter
1. 12. östl. Molodeczno Starker Schneefall den ganzen Tag über, dabei sehr kalt. Nachts klart es aber auf, dabei windig.
2. 12. erreicht Molodeczno extrem kalter Tag; unklar, ob es wieder schneit. (Aber in Wilna tags wie nachts Temperaturen nur um die 0°C - auch hier wie schon am 30. 11. ein Widerspruch)
4. 12. verlässt Molodeczno Temperaturen um -25°C; allerdings sollen nach den Messungen von Larrey zwischen dem 28. 11. und dem 4. 12. die Temperaturen nie tiefer als -15°C gewesen sein - dafür sprechen auch die Wilna-Temperaturen, die nachts erst nach dem 4. unter -15°C fallen.
5. 12. erreicht Smorgoni Morgens -25°C; den Tag über windstill. Am Abend verlässt Napoleon seine Armee und erreicht um Mitternacht Ochmiana. Die Nacht ist sternenklar und die Temperatur fällt auf -27°C
6. 12. N. erreicht Wilna Ab Ochmiana wird Napoleon von mehreren hundert Lanzenreitern eskortiert. Aber im weiteren Verlauf der Nacht fallen bis zum Morgen die Temperaturen laut den Messungen von Lagneau bis auf -37°C, nach denen von Larrey aber "nur" auf -27°C, was bestens mit dem in Wilna in jener Nacht gemessenen Tiefstwert übereinstimmt. Von den 266 Reitern der Eskorte Napoleons sind bis zum Morgen nur noch 15 am Leben, alle andern im Laufe der Nacht erfroren! (Näheres dazu weiter unten.) Tagsüber ist es sonnig, aber nur wenige Grad wärmer: so um die -20°C
7. 12. erreicht Ochmiana, N. erreicht Kaunas In der wiederum sternenklaren Nacht fällt die Temperatur erneut bis zum Morgen auf Werte um -35°C, in Wilna auf etwa -28 bis -30°C. Am Morgen liegt dann Eisnebel über der Landschaft; nach dessen Auflösung ist es wolkenlos und sonnig.
8. 12. erreicht Miednicki vermutlich weiterhin trocken und klar; in der Nacht zum 9. fällt gemäß den Messungen von Larrey die Temperatur auf -35°C, der tiefste Wert seiner gesamten Messungen. In Wilna aber Tiefstwert im Bereich -25 bis -28°C. In den Folgetagen misst Larrey dann Tiefst-Temperaturen zwischen -22°C und -30°C, wobei aber die Tageswerte nur wenig höher liegen. Am 12. fällt auch in Wilna nachts wieder die Temperatur auf etwa -27 bis -29°C. Im russischen Teil Polens fallen zwischen dem 5. und 9. 12. die Temperaturen bis auf -30°C, aber nicht tiefer.
9. 12. erreicht Wilna in der Nacht vom 8. auf den 9. Temperaturen fallend auf Werte zwischen -32 und -35°C.
10. 12. verlässt Wilna Schon in der Nacht zum 10. verlassen die noch Gehfähigen bzw. -willigen Wilna (aus Angst, von den anrückenden Kosakenverbänden überrannt zu werden). Um 4 Uhr nachts gibt es einen kurzen, aber heftigen Schneeschauer, der viel Neuschnee liefert. Laut Larrey ist die Temperatur aber etwas angestiegen (Keine genaue Angabe von ihm; die Wilnaer Temperaturmessung allerdings weist für jene Nacht -22°C aus.) Tagsüber ist es aber wieder sonnig, aber die Temperaturen steigen nur knapp über -15°C an. Desaster am Ponari-Hügel: ein zwar nur kleiner, aber steiler und total vereister Anstieg, an dem wieder zahlreiche Wagen zu Bruch gehen – vor allem die mit der kaiserlichen Beute aus Moskau beladenen! Dies führt zur umfassenden Plünderung des Beutegutes, an der sich gleichermaßen napoleonische Truppen wie russische beteiligen.
11. 12. erreicht Eve Die Nacht zum 11. ist wieder extrem kalt (den Wilnaer Messdaten zufolge ist es eher die Nacht zum 12., die extrem kalt ausfällt); tagsüber bleibt es sonnig.
12. 12. erreicht Kaunas Der Njemen ist etwa zwei Meter dick fest zugefroren. Im Laufe des Tages setzt starker Schneefall ein, so dass "man kaum 10 Schritte weit sehen kann". In der Nacht zum 13. fällt laut Larrey wiederum die Temperatur sehr stark. Anders die Wilnaer Messungen: in der Nacht zum 13. werden lediglich -12, -13°C erreicht. Offenbar differieren hier die Angaben wie auch bei etlichen anderen Tagen um genau einen Tag - das liegt, wenn man einen simplen Irrtum ausschließen will, vielleicht daran, ob man den Tiefstwert einer Nacht dem vorangehenden oder dem gerade anbrechenden Tag zuordnet.
13. 12. verlässt Kaunas Morgens Nebel, tagsüber Himmel stark bewölkt. Die wenigen noch marschfähigen Truppen verlassen Kaunas; Marschall Ney hält mit der Nachhut Kaunas noch bis zum Abend gegen die nachrückenden russischen Truppen, dann rückt auch er mit seinen Männern ab.
14. 12. N. erreicht Dresden Larrey erreicht Königsberg
18. 12. N. erreicht Paris Auf der Seine treiben noch Eisschollen, am 19. ist der Fluss aber wieder eisfrei.
25. 12. Königsberg Larrey erreicht Königsberg. Temperatur dort -27°C. Was aber wiederum sehr viel besser zum 24. passt, als in Danzig [18] fast -20°C und in Wilna etwa -25°C als Tiefstwerte gemessen wurden.
26. 12. Königsberg Temperaturanstieg auf -22°C. Bis zu Larreys Abreise aus Königsberg am 2. Januar stieg nach seinen Messungen in der Stadt die Temperatur nie über die -20°C-Marke an! Letzteres kann aber nicht stimmen: denn nach den Weihnachtsfeiertagen setzte eine deutliche Milderung ein; so stiegen in Danzig [18] tagsüber die Temperaturen auf bis +5°C an und auch die Nächte blieben bis Jahresende frostfrei und in Wilna schwankten die Temperaturen nur leicht um 0°C herum.

Eisbaum So stellte sich Vasily Vereschagin, ein russischer Schlachtenmaler, rund 70 Jahre nach den Ereignissen, den Rückzug der napoleonischen Armee im Dezember 1812 vor. Jedenfalls würde das Bild gut zum 7. Dezember passen – siehe nebenstehenden Text!

Die Ereignisse am 6. 12. um Napoleons Eskorte sollen hier noch ausführlicher dargestellt werden: Am Abend des 5. verlässt Napoleon seine Armee mit drei Kutschen; in einer reist er zusammen mit Caulaincourt (diese wird von sechs litauischen Pferden gezogen und ist mit Fell ausgekleidet). Vor seiner Abreise wurde aber der französische Kommandant von Wilna davon informiert; dieser schickt deshalb von den just zu dieser Zeit frisch eingetroffenen Truppen (zu denen auch die 10000 Mann der Loison-Division gehören, über deren trauriges Schicksal ja schon in Kapitel 1 berichtet wurde) Reitertrupps Richtung Smorgoni los, die sich an verschiedenen Orten dieser Strecke aufstellen, um dann als Eskorte Napoleons zu fungieren, sobald er an der jeweiligen Station eintrifft. Von der ersten Eskorte gehen im Laufe der ersten Nachthälfte etwa zwei Drittel verloren (unklar, ob einfach nur zurückgefallen oder erfroren). Um Mitternacht erreicht Napoleon Ochmania, wo ihn schon 266 polnische Lanzenreiter als Eskorte erwarten. Diese begleiten seine drei Kutschen dann durch die Nacht hindurch bis zur nächsten Station, die im Morgengrauen erreicht wird. Es ist dies aber eine der kältesten Nächte in diesem Dezember – die Temperaturangaben schwanken zwischen -27 und -37°C (siehe Anmerkungen zum 6.) Jedenfalls ist es so kalt, dass der Wein, den Napoleon in seiner Kutsche mitführt, in den Flaschen gefriert und diese zersprengt. Viel schlimmer aber sind die Auswirkungen dieser extremen Kälte auf seine Eskorte: zur Bewegungslosigkeit verdammt (sie hocken ja auf ihren Pferden) und dem "Fahrtwind" ausgesetzt (sie mussten ja mit den schnell fahrenden Kutschen mithalten) über Stunden hinweg, erfror einer nach dem andern – am Morgen waren von den 266 Mann nur noch 15 übrig! Ein schreckliches Ergebnis, dass aber Napoleon anscheinend nicht weiter bewegt oder gar zum Ändern der "Eskorte-Strategie" veranlasst hat. Jedenfalls begleitet ab Ochmania eine neue Eskorte, diesmal zusammengestellt aus frisch eingetroffenen neapolitanischen Reitern in schicken Paradeuniformen, die wieder einmal nicht die geringste Wintertauglichkeit hatten, den nächsten Abschnitt von Napoleons Reise – und ihnen ergeht es genauso wie ihren Kollegen der Nacht davor... Um 10:15 Uhr kommt Napoleon in Wilna an, begleitet von nur noch 8 Reitern der neapolitanischen Eskorte! Im Laufe des 7. erreicht die vom Kaiser verlassene Truppe Ochmania, und wie einer davon in seinem Tagebuch vermerkt, sie hätten den Weg, den Napoleon genommen hatte, allein schon an den am Wegesrand liegenden schnee- und eisbedeckten "Hügeln" aus erfrorenen Lanzenreitern und ihren Pferden leicht erkennen können. Eine schaurige Allee der Erfrorenen, den die Truppe da durchschritt, die sie aber schon seit Wochen ja täglich selbst hinterließ!

Soweit das "Wettertagebuch" der napoleonischen Truppen! Von russischer Seite her konnte ich bislang leider nur wenige Angaben finden.


4. Wie zuverlässig sind die Angaben im "Wettertagebuch"?

Liest man sich dieses "Wettertagebuch" durch, so drängen sich eigentlich sofort zwei Fragen auf: wie zuverlässig sind die angegebenen Temperaturmessungen und wie glaubwürdig sind die geschilderten Wetterphänomene? Auf der November-Seite wurde dies ja schon ausführlich diskutiert, Details siehe dort. Im Dezember stellt sich aber noch stärker das Problem der Glaubwürdigkeit der zahlreichen sehr tiefen Temperaturmessungen, vor allem, wenn man sich die Messdaten aus St. Petersburg parallel dazu ansieht. In der hier nochmals gezeigten Abb. 5 werden die zwischen Oktober und Dezember in Wilna gemessenen Temperaturen (siehe dazu die Erläuterungen auf der Hauptseite) zusammen mit den von der napoleonischen Armee gemessenen dargestellt. Meist handelt es sich bei letzteren um die früh morgens gemessenen Temperaturen – diese sind also am besten mit den Tiefstwerten von Wilna vergleichbar (weiter unten in diesem Kapitel wird darauf aber noch näher eingegangen).

Karte1 Vergleich der Temperaturmesswerte aus Wilna mit den bekannten Messwerten aus Napoleons Armee
Die wenigen positiven "napoleonischen" Werte sind mit einer Ausnahme (vom 27. 11.) nur Schätzwerte von mir: sie kennzeichnen die Tage, an denen Tauwetter herrschte. Vom 12. - 14. 11. ist in beiden Messreihen eine sehr kalte Periode zu verzeichnen, also in diesem Fall gute Übereinstimmung, wenn man in Rechnung zieht, dass bei den Wilnaer Werten noch etliche Minusgrade dazuaddiert werden müssen, um die Tiefstwerte zu erhalten, da das Heer ja noch hunderte km östlich von Wilna stand. Das Beresina-Tauwetter stimmt auch in beiden Reihen hinlänglich gut überein (siehe ausführliche Diskussion dazu auf der November-Seite), aber am Monatswechsel zum Dezember stößt man auf die erste schwerwiegende Diskrepanz: während am 30./1. bei Napoleons Truppe die Temperatur auf -30°C fällt, steigt sie in Wilna, aber auch in St. Petersburg bis auf 0°C an! Das ist schon ein riesiger Unterschied, der in keinster Weise zu überbrücken ist. Auf der November-Seite wird dies eingehender diskutiert - in der Grafik habe ich diese -30°-Messung als fehlerhaft aussortiert! Die extrem kalte Periode vom 4. - 10. findet sich wiederum in beiden Reihen und dauert wohl bis über den 14. hinaus; zwar liegen keine konkreten Messwerte zwischen dem 11. und 14. aus der Truppe vor, aber es ist mehrmals von extrem kalten Nächten die Rede (so von Larrey, der ja ein Thermometer besitzt!). Trotzdem gibt es auch hier wieder einen großen Ausreißertag, nämlich der 8. 12., an dem die Temperatur in St. Petersburg (Diagramm dazu findet sich ganz unten auf dieser Seite, in der Wetterdiagramm-Tafel) auf -10°C ansteigt, während bei Napoleons Truppe zum wiederholten Mal Werte um -35°C gemessen werden. Da auch Wilna an jenem Tag Tiefstwerte im Bereich - 25 bis -28°C aufweist, ist somit St. Petersburg der Ausreißer! Dies zeigt eindringlich, wie wichtig die Wilnaer Meßreihe gerade für die so wichtigen Anfangs- und Endphasen des Feldzugs ist - St. Petersburg ist da einfach zu weit weg vom Schuß, ein Sprichwort, dass mn hier leider wörtlich nehmen muß ...

Soll man also die ja wirklich beinahe unglaublich tief erscheinenden Messungen der napoleonischen Armee als fehlerhaft oder zumindest stark übertrieben ansehen? Aber mal abgesehen davon, dass auch die Wilnaer und St. Petersburger Messungen aus jenen Jahren als nicht 100% zuverlässig gelten, sind die napoleonischen Tiefstwerte doch aus meteorologischen Gründen durchaus möglich und ebenso sind die Diskrepanzen zu St. Petersburg und Wilna erklärbar.

Karte1 Zusammenhang zwischen Tagestiefsttemperatur und Tageshöchsttemperatur in Wilna, für alle Dezembertage im Zeitraum 1900 - 1998

In Abb. 6 sind für (fast) alle Dezembertage des 20. Jahrhunderts für Wilna die jeweils gemessenen Tiefstwerte ("Tmin") gegen die Höchstwerte ("Tmax") eingetragen – man erhält so ein sog. Streudiagramm, aus dem man zum einen natürlich ablesen kann, wie oft bestimmte Tmin- und Tmax-Werte vorkamen, zum andern aber auch, wie sehr Tmin- und Tmax-Werte miteinander zusammenhängen. (Das analoge Diagramm zu St. Petersburg sieht übrigens sehr ähnlich aus.) Wie man sieht sind Tiefstwerte unter -15°C keine Seltenheit, auch Werte unter -20°C treten des öfteren auf, wenn auch schon nicht mehr sooo oft. Und Werte unter -25°C sind absolute Raritäten! Allerdings muss man hier anmerken, dass im 19. Jahrhundert gerade das Temperaturniveau des Dezembers im Nordosten Europas spürbar tiefer lag als heutzutage: so betrug das Dezembermittel der Jahre 1800 - 1829 für St. Petersburg -6,1°C während für die Jahre 1967 - 1996 das Mittel -4,2°C beträgt, also fast zwei Grad höher ist, was bei langjährigen Monatsmitteln schon ganz erheblich ist! Abb. 6 hilft, zumindest etwas, bei der Frage weiter, ob man aus den ja meist als Tiefstwerte (bzw. den Tiefstwerten relativ nahe liegenden) vorliegenden napoleonischen Messwerten auf die damaligen Tageshöchstwerte Rückschlüsse ziehen kann. Bei der Dezemberkältewelle merkte Larrey an, dass die Tageshöchstwerte nur wenig über denen der Nacht gelegen hätten. Leider zeigt das Streudiagramm gerade Richtung tiefer Werte hin eine zunehmende Streuung; so sind bei einem Tmin von -20°C etwa gleichwahrscheinlich Tmax-Werte zwischen -17 und -7°C möglich, mit Ausreißern bis nahe 0°C hin! Interessanterweise wird aber zu den ganz tiefen Tmin-Werten hin die Streuung wieder deutlich kleiner: bei Nachtwerten unter -25°C wird es auch tagsüber nicht "wärmer" als -17 bis -23°C; dies passt sehr gut zu Larreys Aussage und auch zu den aus den Tagesmittelwerten von 1812 abgeleiteten Höchsttemperaturen von Wilna.

Karte1 Zusammenhang zwischen den in St. Petersburg und Wilna gemessenen Tagestiefsttemperaturen für alle Dezembertage im Zeitraum 1900 - 1998

Abb. 7 beantwortet ziemlich eindeutig die Frage, ob denn die im Dezember 1812 mehrfach aufgetretenen großen Temperaturdiskrepanzen zwischen St. Petersburg und Wilna überhaupt möglich sind bzw. wie oft solche überhaupt auftreten. Im Diagramm sind für (fast) alle Dezembertage des 20. Jahrhunderts für St. Petersburg (X-Achse) und Wilna (Y-Achse) die jeweils gemessenen Tiefstwerte ("Tmin") eingetragen; man erhält so wiederum ein Streudiagramm, aus dem man ablesen kann, wie sehr die Tmin-Werte beider Städte miteinander zusammenhängen (für die Tmax-Werte sieht die Streuung sehr ähnlich aus). Mit etwa Phantasie erinnert das Diagramm an eine Krake: oben rechts der Kopf, und von ihm ausgehend fächern sich dann nach unten links hin seine Fangarme auf. Oder nüchtern betrachtet: Bei mildem Wetter um die 0°C herum weisen Wilna und St. Petersburg in den weit überwiegenden Fällen sehr ähnliche Temperaturen auf; natürlich gibt es auch dann Ausreißer, aber der "Kopf" des Kraken enthält doch sehr viele Tage! Je tiefer aber die Temperaturen werden, umso größer wird die Streuung, d.h. die Tmin-Werte beider Städte hören zunehmend auf, miteinander zusammenzuhängen. So kann man z.B. bei einem Tmin um die -20°C in St. Petersburg mit praktisch gleicher Wahrscheinlichkeit Tmin-Werte zwischen -27 und +2°C in Wilna finden! Umgekehrt gilt dasselbe: bei einem Tmin von -20°C in Wilna kann man gleichwahrscheinlich jeden Wert zwischen -29 und -1°C in St. Petersburg antreffen. Erst bei den ganz tiefen Werten um -30°C ändert sich dies wieder, aber da dies nur noch wenige Fälle sind, lässt sich damit keine Statistik mehr erstellen.

Jedenfalls gibt das Diagramm eine klare Antwort auf die Frage, ob die berichteten Temperaturdifferenzen im Dezember 1812 zwischen Wilna und St. Petersburg überhaupt möglich sind: Ja, sie sind es! Mehr noch: sie sind bei tiefen Temperaturen sogar die Regel! Im nachfolgenden Kapitel, bei der Diskussion der Wetterlagen im Monatsverlauf, wird dazu auch ein konkretes Beispiel gegeben.


5. Die Wetterlagen im Monatsverlauf

Karte1 Änderungen des Luftdrucks von Tag zu Tag im Dezember 1812 für London, Mailand und Stockholm

Der tatsächliche Wetterablauf im Dezember 1812 war mit Sicherheit nicht so statisch wie es die in den Kapiteln 1 und 2 gezeigten mittleren Monatswerte suggerieren. Tatsächlich schwankt der Luftdruck an verschiedenen europäischen Stationen im Laufe des Monats doch recht deutlich – Abb. 8 zeigt die Luftdruckveränderungen für London, Mailand und Stockholm. Diese drei Stationen bilden über Europa quasi ein Dreieck, dass den Norden, Westen und Süden des Kontinents überdeckt und deshalb gut für die Rekonstruktion des Europawetters zu gebrauchen ist. Beim Betrachten der drei Druckkurven fällt sofort auf, dass die von London und Mailand in etwa parallel verlaufen, die von Stockholm aber nach der ersten Woche deutlich anders sich entwickelt: ab dann steigt dort der Luftdruck langsam aber permanent an, während um die Monatsmitte in London und Mailand recht tiefer Druck auftritt. Im Winter ist dies das "klassische" Szenario für einen Kälteeinbruch aus Osten: hoher Luftdruck über Nord- und Osteuropa, tiefer im Mittelmeerraum. Und tatsächlich hat im zweiten Dezemberdrittel die eisige Kälte große Teile Europas fest im Griff.

Stockholm Tägliche Änderungen des Luftdrucks und der Temperatur im November 1812 in Stockholm

Sehr hilfreich ist es, sich aber auch das Wetterdiagramm von Stockholm näher anzusehen. Deshalb wird es als Abb. 9 gezeigt (obwohl es weiter unten als Bestandteil der Wetterdiagramm-Sektion nochmals eingebaut ist). Sehr markant der Luftdruckeinbruch am Monatsanfang und der am Monatsende; ein drittes Tief etwa um den 9. herum ist ebenfalls noch gut zu erkennen – und alle drei Tiefdurchgänge sind mit erhöhten Temperaturen verbunden, vor allem beim ersten und letzten! Aber vom 9. bis Weihnachten steigt der Luftdruck, abgesehen von kleinen Schwankungen, permanent an, ohne aber sehr hohe Werte zu erreichen.

Der Luftdruckeinbruch um den 1. Dezember herum

Alternative Überschrift: "Der Griff ins ...", na, Sie wissen schon, wohin! Denn meine Analyse von der Vorgänger-Version aus dem Jahr 2012 ist wohl völlig falsch gewesen! Denn damals kannte ich die Wilnaer Tagestemperaturen noch nicht und ging davon aus, die extrem tiefen -30°C am 30. 11., die aus Napoleons Truppe berichtet wurde, seien reell. Um eine Wetterlage zu finden, die das hinbekam, war langes Suchen vonnöten und einiges Hin- und Herbiegen - alles umsonst! Warum die -30° nicht stimmen können, habe ich ja weiter oben sowie auf der November-Seite schon ausführlich erläutert. Nun, mit den "neuen" Wilna-Daten, sieht die Wetterlage der ersten Dezembertage sehr einfach aus: Ende November fiel der Luftdruck über Skandinavien stark ab, parallel dazu sieht man Ende November und Anfang Dezember von West nach Ost in Europa ein z.T. kräftiges Ansteigen der Temperatur, so in Stockholm, Danzig, St. Petersburg und eben auch in Wilna! Die Diagnose ist einfach: ein Skandinavientief zieht mit seinem Kern über die Mitte oder den Süden Skandinaviens von West nach Ost und führt in breitem Strom auf seiner Vorderseite milde Luft bis weit nach Russland hinein. Bei Temperaturen um 0° lösen die am 1. Dezember die von Napoleons Heer gemeldeten anhaltenden Schneefälle aus. Das war es dann schon! Denn mit diesem Szenario passt jetzt das Wetter in ganz Europa zusammen, was es beim alten Szenario von 2012 nicht so recht wollte. Eigentlich müsste ich nun den alten Rest dieses Kapitels löschen - allerdings kann er zum einen noch dienen als abschreckendes Beispiel, wie sehr man sich verirren kann bei ungenügender oder gar falscher Datenlage, zum andern aber auch als lehrreiches Beispiel, was alles an extremen Wetterlagen möglich ist - denn tatsächlich war es ja machbar (und historisch sogar schon vorgekommen), diese -30° hinzubekommen! Und noch ein Grund, das Ganze nicht zu löschen: falls Napoleons Wetterdaten doch richtig waren, die von Wilna hingegen fehlerhaft, dann ... Also, wer die ungeänderte alte Version sehen will: HIER KLICKEN
Das "Was wäre wenn-Wetter" um den 1. Dezember herum

Um den Dezemberanfang zu verstehen, muss man zwei Tage zurückblenden: am 29. 11. herrscht über Skandinavien noch hoher Luftdruck, der dann aber rasch abgebaut wird und am 1. Dezember einen Tiefstwert von rund 1000 hPa erreicht. In Stockholm verändert sich die Temperatur dabei nur wenig (knapp über 0), in St. Petersburg aber steigt sie von -10°C am 29. auf 0°C am 1. an (angegeben sind Tagesmittelwerte), also ein markanter Anstieg. Gleichzeitig aber war es in Weißrussland, wo Napoleons Armee sich zu dieser Zeit befand, extrem kalt: am 30. 11. wurden dort -30°C gemessen, tagsüber war es sonnig. Am 1. 12. war es immer noch sehr kalt, aber es schneite den ganzen Tag über (siehe Wettertagebuch). Im letzten Kapitel wurde der Fall relativ hoher Temperaturen in St. Petersburg und gleichzeitig wesentlich tieferer im Süden, im Raum Wilna/Weißrussland, ja bereits diskutiert. Hier ist nun die Gelegenheit, konkret zu zeigen, welche Wetterlage so etwas erzeugen kann. Auch hier nehme ich ein der Lage von 1812 möglichst nahekommendes Beispiel aus gut belegter "jüngerer" Zeit, nämlich den Dezember 1933.

Der Zeitraum 12. -15. Dezember 1933 wird hier als Analogie für den Zeitraum 29. 11. - 2. 12. 1812 betrachtet, siehe Abb. 10. Es sei aber vorweggeschickt, dass die Übereinstimmung der beiden Wetterlagen zwar sehr gut für Nord- und Osteuropa ist, weniger gut aber für West- und Mitteleuropa: vor allem ist es Mitte Dezember 1933 in Mitteleuropa schon deutlich kälter als Anfang Dezember 1812. Aber uns interessiert hier ja, wie die "Temperaturschaukel" in Nordosteuropa funktioniert und das wird durch Abb. 10 gut demonstriert.

Im Folgenden benutze ich immer die Daten von 1812 – die dazu analogen von 1933 siehe Abb. 10. Am 29. 11. liegen Skandinavien und Nordrussland unter einem Hochdruckgebiet mit einem Kerndruck um die 1023 hPa; arktische Kaltluft ist eingeflossen und in den klaren Nächten werden über Schneeflächen, vor allem in etwas weiter von der (noch wärmenden, da noch nicht zugefrorenen) Ostsee entfernten Gebieten, schon sehr tiefe Temperaturen erreicht. Am 30. 11. aber näher sich von Westen kommend ein Tiefdruckgebiet, das aber weit nördlich, etwa am Nordkap, nach Skandinavien hineinzieht; der Luftdruck beginnt großräumig zu fallen, das Skandinavienhoch wird nach Süden abgedrängt. Gleichzeitig führt das Tief auf seiner Vorderseite vom Atlantik mitgebrachte angewärmte (Golfstrom!) Meeresluft mit sich und entsprechend beginnt die Temperatur über Skandinavien schon zu steigen. Bis zum 1. 12. ist das Tief unter weiterer Verstärkung (Kerndruck nun bei 988 hPa, über Stockholm bei 1000 hPa) nach Osten gezogen und liegt nun in der St. Petersburger Gegend. Gut zu erkennen in der dritten Wetterkarte von Abb. 10 die ausgeprägte Warmluftschleppe, die sich quer über die Ostsee zieht und bis St. Petersburg reicht (während ganz im Norden schon wieder kältere Luft vorstößt). Aber ebenfalls gut zu erkennen: das Baltikum und Weißrussland verbleiben in der Kaltluft! Die milden Luftmassen ziehen quasi "streifend" bzw. knapp nördlich vorbei. (Und über Mittel- und Westeuropa herrscht relativ hoher Luftdruck vor.) Die von der Truppe gemeldeten Schneefälle am 1. 12. 1812 bei sehr kalten Temperaturen sind also leicht zu erklären: das heranziehende Tief ist dafür verantwortlich.

Wkarte1 Wetterlage vom 12. bis 15. Dezember 1933; sehr ähnlich dürfte die Wetterlage vom 29. 11. bis 2. 12. 1812 über Europa ausgesehen haben.

Tatsächlich zeigen die Temperaturen aus dem Jahr 1933 auch einen gewaltigen Temperatursprung zwischen St. Petersburg und Wilna, wie nachfolgende kleine Tabelle eindrücklich zeigt:

  St. Petersburg Wilna
Datum Tmax Tmin Tmax Tmin
12. 12. 1933 -10,0 -13,3 -2,8 -18,5
13. 12. 1933 -4,8 -13,4 -13,3 -20,5
14. 12. 1933 -1,8 -5,5 -15,5 -24,1
15. 12. 1933 -4,4 -11,7 -15,6 -22,7
16. 12. 1933 -9,1 -16,9 -15,1 -21,3

Allerdings gab es 1933 vom 12. - 16. 12. 1933 keinen Niederschlag in Wilna und am 17. und 19. nur minimale Mengen. Vom 13. - 16. 12. 1933 fiel täglich Niederschlag in St. Petersburg, aber nur in geringen Mengen: insgesamt gerade mal 3 mm. Das muss den Schilderungen nach Anfang Dezember 1812 deutlich mehr gewesen sein! Jedenfalls zeigen die 1933er Temperaturen aus Wilna, wie extrem kalt die Nächte schon bei dieser eher nicht so superkalten Großwetterlage dort werden können! Und sie zeigen auch: wäre das Tief nur etwas südlicher durchgezogen, hätte es statt der -30°C-Nacht am 30. November, die schon sehr viele Soldaten durch Erfrieren das Leben kostete, nur eine mit vielleicht -5, -6°C gegeben, was auszuhalten ist. Aber die vierte und letzte Wetterkarte in Abb. 10 zeigt auch, dass schon am 2. 12. das Tief abgezogen ist und die Kaltluft wieder ganz Nordosteuropa geflutet hat, bei gleichzeitigem kräftigen Druckanstieg: der zweite Akt der Kältewelle beginnt!

Ende des Das "Was wäre wenn-Wetter" um den 1. Dezember herum - nun wieder seriös weiter im Text!

Aufbau eines Kältehochs bis zum 7. Dezember

Bis zum 7. steigt nun über Skandinavien der Luftdruck stark an, ebenfalls über England: dort erst langsam, ab dem 5. dann schneller steigend. Über Italien hingegen beginnt er zu sinken, und damit entwickelt sich langsam eine Wetterlage, in der zwischen dem sich verstärkenden Mittelmeertief und dem sich aufbauenden Hoch über Nordeuropa zunehmend kalte Luft aus dem Osten nach West- und Mitteleuropa transportiert wird. Abb. 11 zeigt eine wohl ganz ähnliche Lage von Anfang Dezember 1902; allerdings sollte man sich das kleine Tief, das am 2. 12. 1902 über England liegt und dort die Abkühlung und den Luftdruckanstieg um einen Tag verzögert, wegdenken, denn am 5. 12. 1802 gab es das dort nicht! Ansonsten aber ist die Lage gut getroffen – auch darin, dass über Westeuropa diese erste Kältewelle nur sehr moderat ausfällt (erst am 8. meldet London den ersten Eistag, also T < 0 den ganzen Tag über). Über Mitteleuropa aber ist sie schon, für Anfang Dezember, recht kräftig und über Ost- und Nordeuropa erkennt man leicht an der tiefblauen Farbe in den Wetterkarten, dass dort Eiskeller-Temperaturen herrschen, ganz so wie von den napoleonischen Soldaten geschildert. Am 7. ist dann eigentlich wetterlagenmäßig alles für eine wirklich ernste Kältewelle auch für den Rest Europas vorbereitet, und tatsächlich wird z.B. in Augsburg die Nacht zum 8. mit fast -20°C schon sehr kalt. Aber dann kommt etwas dazwischen: ein neues Tief!

Wkarte1 Wetterlage vom 1. bis 4. Dezember 1902; sehr ähnlich dürfte die Wetterlage vom 4. bis 7. Dezember 1812 über Europa ausgesehen haben.

Das Durchbruchstief vom 8. und 9. Dezember

Vom 7. auf den 8. Dezember bricht der Luftdruck in Stockholm regelrecht ein, er fällt um 30 hPa in nur 24 Stunden! Verbunden damit ein deutlicher Temperaturanstieg am 8., der allerdings zu keinem Tauwetter führt (also aus "sehr kalt" nur noch "kalt" macht). Den gleichen Temperaturpeak beobachtet man am 8. auch in St. Petersburg, und am 9. dann in Berlin, Breslau, Prag, Wien. Der 9. ist auch in Wilna wärmer als der Vortag, allerdings nur um etwa 4 - 6°C, es bleibt dort also eisig. Auch in London beginnt ab dem 7. der Luftdruck zu fallen, aber nur moderat; in Augsburg und Wien hingegen vom 8. auf den 9. starker Druckfall, verbunden mit starkem bis stürmischem (West)Wind. Verbreitet kommt es dabei in West- und Mitteleuropa zu meist leichten Schneefällen. Die wahrscheinlichste Wetterlage dazu ist ein Sturmtief, das vom Nordmeer kommend und sich dabei vertiefend nach Skandinavien hineinzieht (also die von Russland über Skandinavien bis nach Großbritannien reichende Zone hohen Luftdrucks quasi in der Mitte durchbricht) und von dort aus weiter in südöstlicher Richtung; es führt Polarluft heran, die wegen ihrer maritimen Herkunft wärmer als die über dem Kontinent lagernde kontinentale Kaltluft ist und deshalb auch zu Frostabschwächung, nicht aber zu Tauwetter führt (außer ein wenig in England und Holland). Möglicherweise entwickelt sich am 9. auch ein Mittelmeertief, das sich nach Norden hin ausdehnt und sich dann am 10. mit dem von Norden heranziehenden Tief verbindet. Nachfolgende Abb. 12 zeigt eine solche Entwicklung, am Beispiel des 9. - 11. Dezembers 1906. (Allerdings wurden diesmal die Temperaturen von 1906 um 10°C künstlich erniedrigt, um sie dem Temperaturniveau von 1812 anzupassen!) Zu dieser Lage passen auch gut die Schneeschauer, am 10., die von der napoleonischen Truppe aus Wilna gemeldet werden.

Wkarte1 Wetterlage vom 9. bis 11. Dezember 1906; ähnlich dürfte die Wetterlage vom 8. bis 10. Dezember 1812 über Europa ausgesehen haben.

Neuaufbau des Kältehochs, 10. - 25. Dezember

In den Folgetagen steigt über Skandinavien der Luftdruck langsam an, verbunden mit stark sinkenden Temperaturen: das russische Kältehoch dehnt sich wieder nach Westen aus. Es fließt nun zunehmend kältere Luft aus östlichen Richtungen vor allem nach Mitteleuropa, aber in abgeschwächter Form auch bis nach Westeuropa ein. Die Wetterlage sieht damit wieder ganz ähnlich der vom 7. Dezember aus, jetzt aber mit vor allem in Mitteleuropa deutlich verschärftem Frost (siehe unten im Diagrammteil z.B. dazu das Berliner Diagramm: dort wird es eine Woche jeden Tag immer kälter, bis am 14. nur noch eine Tagesmitteltemperatur von -17°C erreicht wird; und in Augsburg wird am 12. eine Tiefsttemperatur von -22,5°C gemessen!). Zur Mitte des Monats setzt allerdings über West-, Süd- und Mitteleuropa eine interessante Entwicklung ein, die den scharfen Frost erst einmal stoppt – mehr dazu im nächsten Abschnitt. Das Hoch über Skandinavien/Nordrussland bleibt allerdings auch nicht ungestört: in Abb. 9 sieht man in der Druckkurve zwischen dem 10. und dem 25. mehrere kleine "Dellen", die (mit Ausnahme der vom 22.) immer auch mit einem Temperaturanstieg (auch in Wilna und St. Petersburg) verbunden sind. Vermutlich Auswirkung von Tiefs, die über den äußersten Norden Skandinaviens und Nordwestrusslands hinwegziehen und dabei etwas weniger kalte Luft mitführen. Trotzdem können auch diese "entfernten" Tiefs wetterrelevant werden: am 12. wird aus Kaunas von Napoleons Soldaten starker Schneefall, so dicht, dass "man kaum 10 Schritte weit sehen kann", gemeldet (siehe Wettertagebuch weiter oben). Und am 13. ist der Himmel stark bewölkt. Mal abgesehen von dem wieder einmal starken Schneefall (siehe dazu Diskussion auf der November-Seite) ist es aber faszinierend zu sehen, wie gut die gemeldeten Wetterbeobachtungen mit den instrumentell gemessenen Temperatur- und Druckwerten in Stockholm und St. Petersburg zusammenpassen! In Abb. 13 (siehe nachfolgenden Abschnitt) kann man eines dieser die "Dellen" verursachenden Nordmeertiefs gut sehen.

Der tiefe Luftdruck über West- und Südeuropa zur Monatsmitte

Wkarte1 Wetterlage am 19. November 1906 (Temperatur aber um rund 10°C erniedrigt, um sie den Dezemberverhältnissen anzupassen); ähnlich dürfte die Wetterlage am 17. und 18. Dezember 1812 über Europa ausgesehen haben.

Etwa ab dem 14. beginnt über West- und Südeuropa der Luftdruck recht stark zu fallen (siehe Wetterdiagramme von London, Mailand), auch das südl. Mitteleuropa ist davon betroffen. Der schließlich in Mailand am 17. erreichte Tiefstwert von 992 hPa ist für Norditalien schon sehr tief und kommt nur sehr selten vor (im 20. Jhrhdt. nur etwa 16 mal im Dezember); noch seltener ist es, dass dabei gleichzeitig ebenso bzw. noch tieferer Druck über London herrscht, dafür aber hoher Luftdruck über Skandinavien. Die dazu passende Wetterlage für den (in etwa) 17./18. 12. 1812 zeigt Abb. 13; die Vorlage dazu stammt aus dem November 1984, wobei aber die Temperatur um rund 10°C erniedrigt wurde, um sie den Dezemberverhältnissen anzupassen. Man erkennt einen langgestreckten Tiefdruckkomplex, der von Großbritannien bis nach Italien reicht, dessen Achse also von NW nach SO verläuft. Da um ein Tiefdrucksystem die Luftmassen entgegen dem Uhrzeigersinn kreisen, wird milde Mittelmeerluft an der Ostflanke des Tiefs über die Alpen und dann Richtung England transportiert. Folge davon ist ein über ganz Mitteleuropa zu beobachtender Temperaturanstieg, der allerdings nur in England zu nennenswertem Tauwetter führt. Ansonsten gleitet die milde Luft über die sehr kalte und deshalb schwerere Luft auf, die über Mitteleuropa liegt, und führt so zu verbreiteten, meist nur leichten Schneefällen um die Monatsmitte herum. Örtlich können dabei aber auch größere Mengen fallen; so fallen in Prag vom 16. - 19. etwa 15 bis 20 cm Schnee und in Augsburg vermutlich sogar mehr als 20 cm. Weiter nordöstlich über Skandinavien und Osteuropa merkt man davon nichts; dafür aber kann man auf der Wetterkarte in Abb. 13 über dem äußersten Nordosten eines der im vorigen Abschnitt erwähnten Nordmeertiefs sehen, die immer wieder die "Dellen" in dem ansonsten hohen Luftdruck über Skandinavien und Nordrussland verursachen. Die Karte gibt auch die Temperaturverhältnisse über Russland sehr gut wieder: so herrschen am 17. und 18. in Wilna wieder extrem tiefe Temperaturen mit Nachtwerten um -25°C und auch tagsüber bleibt die Temperatur noch unter -15°C!

Die milden Folgen einer Hochdruck-Drehung: 20. - 23. 12.

Nach dem 17. fängt über West- und Mitteleuropa der Luftdruck wieder an zu steigen, es etabliert sich erneut die gewohnte Strengwinterlage: tiefer Luftdruck über dem Mittelmeer, hoher über Skandinavien. Schon der 19. fällt über Mitteleuropa wieder sehr kalt aus und im Nordosten Europas herrschen wie schon seit Tagen extrem tiefe Temperaturen mit Tagesmittelwerten um -20°C. Aber am 21. sieht man dann plötzlich in der Temperaturkurve von St. Petersburg einen drastischen Sprung nach oben, von -21°C auf nur noch -7°C! Und bis zum 25. steigt die Temperatur weiter an, auf "milde" -4°C. In Stockholm fängt die Temperatur erst am 23. an zu steigen, in großen Teilen West- und Mitteleuropas kann man am 22. und 23. ebenfalls einen Temperatursprung nach oben beobachten. Abb. 14 zeigt, wie sich im Winter solch ein offensichtlich von NO (also einer Ecke, wo normalerweise die kältesten Luftmassen herstammen) kommender Warmluftvorstoß entwickeln kann (am Beispiel der drei Tage 31. 1. - 2. 2. 1956):

Wkarte1 Wetterlage vom 31. 1. bis 2. 2. 1956; ähnlich dürfte die Wetterlage vom 20. bis 22. Dezember 1812 über Europa ausgesehen haben.
Am 20. 12. ist die Achse des Skandinavien-Hochs noch west-östlich ausgerichtet, und an seiner Südflanke strömt die kontinentale Kaltluft weit nach Westen, während an der Nordflanke angewärmte (Golfstrom!) Atlantikluft ins Nordmeer transportiert wird. Am 21. aber hat sich die Achse des Hochdruckgebiets gedreht, sie liegt nun in südwestlich-nordöstlicher Ausrichtung. Damit kann die im Nordmeer ja schon "bereitgestellte" vergleichsweise milde Luft nun von NO nach SW strömen. Und so wird am 21. zuerst ganz Nordwestrussland (mit St. Petersburg) und Finnland von der milden Luft erfasst, einen Tag später dann auch Südskandinavien und Mitteleuropa. Im gezeigten Vergleichsfall aus dem Jahre 1956 ist allerdings die Milderung etwas stärker als 1812 ausgefallen und reichte auch etwas weiter nach Süden und Westen als 1812. Zudem war um den 21. herum 1812 der Luftdruck über Großbritannien noch nicht so hoch wie 1956, aber ansonsten spiegeln die gezeigten Wetterkarten recht gut die Druck- und Temperaturverhältnisse über Europa für die drei Tage 20. - 22. 12. 1812 wider. Jedenfalls eine interessante Variante (die aber gar nicht mal so selten ist), wie es mitten im "sibirischen" Winter just aus der NO-Ecke her plötzlich deutlich milder werden kann. Wilna war von dieser Erwärmung auch betroffen, aber sie fiel nicht so krass aus wie in St. Petersburg; immerhin aber lagen am 20. und 21. die Tiefstwerte der Nacht nur noch um die -16°C, damit rund 10° höher als noch an den Vortagen.

Der doppelte Wendepunkt: Weihnachten 1812

Wkarte1 Wetterlage am 19. Dezember 1913 (Temperatur aber um rund 5°C erniedrigt, um sie den Dezemberverhältnissen anzupassen); ähnlich dürfte die Wetterlage am 27. Dezember 1812 über Europa ausgesehen haben.

Ab dem 22. dreht das Hoch seine Achse wieder auf West-Ost zurück und dementsprechend wird es europaweit kälter - in Wilna sogar massiv, die Tiefstwerte liegen dort wieder nahe -30°C und tagsüber wird es nicht wärmer als -18 bis -20°C. Aber ab dem 25., Weihnachten, kann man eine doppelte Wende über Europa beobachten: über der Nordhälfte (Skandinavien, Nordwest-Russland, Baltikum, nördliches Mitteleuropa, Belgien) fängt die Temperatur an zu steigen (in Wilna wird am 26. sogar tagsüber die 0°-Marke erreicht, nachts nur mehr ganz leichter Frost), während sie aber im südlichen Mitteleuropa und Norditalien fällt, teilweise sogar erheblich: so werden in Augsburg vom 25. - 27. wieder Tiefsttemperaturen zwischen -15 und -18°C gemessen und in Wien sogar -19°C, die tiefste Temperatur im Dezember 1812 dort. In Berlin hingegen steigt die Tagesmitteltemperatur von tiefen -13°C am Weihnachtstag auf -1°C am 28. an und erreicht schließlich, unter dem Einfluss eines Tiefs am Monatsende (siehe nächsten Abschnitt) +3,5°C am 30. Dezember. In der Zeit vom 25. - 28. verlagert sich das bisher über Skandinavien/Russland liegende Hochdruckgebiet nach Süden; Abb. 15 zeigt, wie in etwa die Wetterlage um den 27. herum über Europa aussah (das benutzte Beispiel stammt aus dem Dezember 1913, wobei allerdings die Temperatur einheitlich um 5°C gesenkt wurde, um sie den Verhältnissen von 1812 anzupassen). Man sieht gut, wie die kontinentale Kaltluft jetzt nach Süden und Osten abgedrängt ist, mit einem Kälte-Schwerpunkt über Tschechien, Österreich und Süddeutschland. Im Norden hingegen ist es deutlich milder. Interessant auch das am oberen Rand rechts erkennbare Nordmeertief. Seinen Einfluss erkennt man gut an dem Zickzackverlauf der Temperatur in St. Petersburg zwischen dem 25. und 28. Und letztlich sind es natürlich diese weit nördlich ziehenden Tiefs, die die milderen Luftmassen in die nördliche Hälfte Europas verfrachten. Aber wirkliches Tauwetter bringt erst ein Tiefdruck-"Volltreffer" zum Monatsende! Mehr dazu im nächsten Abschnitt.

Ein Skandinavientief vertreibt die Kälte: 29. - 31. 12.

Am 29. Dezember zieht von NW kommend ein stark ausgeprägtes Tief nach Skandinavien; innerhalb von 24 h fällt in Stockholm der Luftdruck um rund 30 hPa und die Tagesmitteltemperatur steigt steil an von knapp unter -4°C auf über +4°C! Und in St. Petersburg werden am 29. 0°C erreicht, in Wilna am 30. sogar etwa +3°C. Die drei Wetterkarten der Abb. 16 zeigen die Situation, wie sie in etwa vom 29. - 31. über Europa geherrscht haben muss. (Die Beispielkarten stammen aus dem Dezember 1925; die Druckverteilung über Europa ist der von 1812 tatsächlich sehr ähnlich, sogar was den Kerndruck des Tiefs über Skandinavien angeht. Allerdings ist 1812 der Kern des Tiefs wohl von Stockholm aus auf einer etwas südöstlicheren Bahn und auch schneller als 1925 weitergezogen.) Das kräftige Tief führt auf seiner Vorderseite einen großen Schwall milder Luft Richtung Osten; schon am 29. meldet London +7°C und Berlin +2°C, während in Süddeutschland und Österreich die Temperaturen noch unter dem Gefrierpunkt bleiben. Am 30. aber setzt sich die milde Luft auch dort durch; gleichzeitig fängt es über Skandinavien und Nordwestrussland wieder an, deutlich kälter zu werden, denn nach Durchzug des Tiefkerns wird auf dessen Rückseite erneut arktisch-sibirische Kaltluft angezapft. Am 31. bricht diese Kaltluft wieder mit großer Heftigkeit über den Norden Europas ein: so meldet Stockholm am Silvestertag eine Tagesmitteltemperatur lediglich -6°C; aber wirklich drastisch ist der Temperatureinbruch in St. Petersburg mit -22°C Tagesmitteltemperatur! Der Rest Europas aber merkt davon (noch) nichts; hier hat sich an der Südflanke des Tiefs bei weiter zurückgehendem Luftdruck eine Westströmung eingestellt und es bleibt bis ins neue Jahr hinein mild (nennenswerter Frost tritt in Berlin z.B. erst ab Mitte Januar 1813 wieder auf).

Wkarte1 Wetterlage vom 17. bis 19. 12. 1925; ähnlich dürfte die Wetterlage vom 29. bis 31. Dezember 1812 über Europa ausgesehen haben.

Oben im Wettertagebuch wurden auch die Messungen des Arztes Larrey aus Königsberg angegeben: Temperatur dort am Weihnachtstag -27°C., dann Temperaturanstieg auf -22°C. Der Temperaturanstieg nach Weihnachten passt gut zu der oben erläuterten Wetterlage für diese Tage, allerdings erscheinen die Temperaturen Larreys doch deutlich zu niedrig, wenn man die Werte aus Berlin, Stockholm und St. Petersburg damit vergleicht. Bis zu Larreys Abreise aus Königsberg am 2. Januar soll nach seinen Messungen in der Stadt die Temperatur nie über die -20°C-Marke angestiegen sein. Dies nun kann eigentlich nicht richtig sein – das Tief vom 29. muss auch in Königsberg zu einem erheblichen Temperaturanstieg bis nahe oder sogar leicht über 0°C geführt haben. Alle anderen Städte um Königsberg herum, Wilna, St. Petersburg, Stockholm, Berlin, Breslau und vor allem Danzig zeigen diesen deutlichen Anstieg. Könnte es aber so gewesen sein, dass am 31. oder 1. die von Norden vorstoßende extrem kalte Luft wieder Ostpreußen überflutet hat? Larrey hätte dann die Temperatur seines Abreisetages einfach nur zu sehr verallgemeinert. Allerdings spricht dagegen, dass es in Danzig [18] noch bis weit in den Januar hinein mild blieb, und auch Wilna meldete am Neujahrstag nur leichten Frost und in den Folgetagen nur sehr moderaten. All dies zeigt, dass man mit den überlieferten Thermometermessungen vorsichtig umgehen muss!


6. Wetterdiagramme

Richtig "erfühlbar" wird das Wetter jenes November 1812 aber erst durch den Gang der Witterung für jeden Tag des Monats an einen Ort: wie hoch die tägliche Temperatur war, ob es geregnet hat, wie bewölkt es war, woher der Wind wehte usw. Die folgende Tabelle zeigt für 11 Orte solche Wetterdiagramme (ein Klick auf jedes Diagramm öffnet ein neues Fenster, in dem eine größere Version des Diagramms gezeigt wird). In den gezeigten meteorologischen Parametern unterscheiden sich die Diagramme teilweise voneinander – denn je nach Station liegen unterschiedliche Beobachtungen vor: mal nur die mittlere tägliche Temperatur, dann wieder Temperaturen um 8 Uhr und um 15 Uhr, mal wurde der Luftdruck gemessen, mal nicht usw. Die Anordnung der Orte in der Tafel erfolgt alphabetisch, von links nach rechts, dann nächste Zeile usw.

Augsburg Berlin Breslau
Wien London Mailand
St. Petersburg Prag Stockholm

Bei einem Mausklick auf ein Diagramm wird es in einem separaten, an die Bildschirmgröße angepassten Fenster geöffnet. In den meisten Diagrammen ist auch für jeden Tag des Monats die Tagesmitteltemperatur eingetragen, und zwar immer gemittelt über einen 30-Jahres-Zeitraum. So kann man sofort sehen, wie sehr die an einem bestimmten Tag gemessene Temperatur vom langjährigen Mittelwert für diesen Tag abweicht. Die 30-Jahresperiode wurde dabei so gewählt, dass sie möglichst nahe der heutigen Zeit zu liegen kommt (von Station zu Station schwankt der Zeitraum etwas).


8. Besondere Wetterereignisse im Dezember 1812

Hier werden die "üblichen" besonderen Ereignisse, wie starke Stürme, verheerende Überschwemmungen, Hitze- und Kältewellen, Dürren, zerstörerischer Hagelschlag, enorme Schneefälle usw. europaweit aufgelistet, in Form einer Tageschronologie, soweit möglich. Gibt es in einem Monat Ereignisse ohne konkret zuordenbares Datum, werden sie unter dem Monatsnamen am Ende der Liste eingetragen. Dank dieser Liste erhält man einen schnellen Überblick, was wann wo in Europa passiert ist.

9. 12.: Erste Eisschollen auf der Seine; in Paris wurden -10,6°C gemessen.
13. 12.: Ab dem 13. war die Maas fest zugefroren – und blieb es bis zum 6. Januar; in Hamburg wurden -20°C gemessen
14. 12.: Die Seine beginnt ganz zuzufrieren; in Berlin wurden Frühtemperaturen zwischen -20 und -25°C gemessen, in Maastricht -16,5°C
17. 12.: Eisgang auf der Seine; in Warschau wurden -22,5°C gemessen – bis zum 25. blieb es dort so kalt.
19. 12.: Gegen 4 Uhr morgens geht das letzte Eis der Seine ab – Fluss wieder völlig eisfrei
26. 12.: Erneut Eisbildung auf der Seine
Dezember: In Königsberg wurden -31°C als Tiefsttemperatur gemessen; in Wilna lag sie zwischen dem 6. und 24. 12. meist zwischen -15 und -22°C; der Sund war zugefroren und man konnte deshalb von Dänemark nach Schweden übers Eis reisen.

Ludwig Gronau [7] berichtet auch, ab dem 7. Dezember wäre der Rhein völlig zugefroren gewesen. Diese Meldung habe ich aus der Liste weggelassen, denn es erscheint nicht glaubwürdig: in West- und Süddeutschland sowie Frankreich/Belgien treten überhaupt erst seit dem 4. oder 5. Dezember Fröste auf, und erst nach dem 7. sind die ersten schweren Fröste zu verzeichnen (siehe Diagramme) – schwer vorstellbar, wie da der Rhein schon am 7. zugefroren sein sollte!



BILDNACHWEIS:

Bild 1: W. Rammacher, unter Benutzung von Daten aus [9]

Bilder 2, 3: W. Rammacher, unter Benutzung von Daten aus [4], [6]

Bild 4: Vasily Vereschtagin, Quelle: Wiki Commons

Bild 5: W. Rammacher, unter Benutzung von Daten aus [15], [16], [17], H[2], H[7]

Bild 6, 7: W. Rammacher, unter Benutzung von Daten aus [4]

Bild 8: W. Rammacher, unter Benutzung von Daten aus [1], [11]

Bild 9: W. Rammacher, unter Benutzung von Daten aus [1]

Bild 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16: W. Rammacher, unter Benutzung von Daten aus [12]

Wetterdiagramme: W. Rammacher, unter Benutzung von Daten aus [1], [3], [4], [5], [8], [11], [13]
(H = Quelle, die im Literaturverzeichnis der Hauptseite aufgeführt ist)

BENUTZTE LITERATUR / ONLINE-QUELLEN:

[1] Camuffo,D., Jones, P. (Hrsgb.): "Improved Understanding of Past Climatic Variability from Early Daily European Instrumental Sources", Kluwer Academic Publishers, 2002

[2] Cornes, Richard C.: "Early Meteorological Data from London and Paris", Thesis, University of East Anglia, 2010

[3] Das Klima von Berlin (II) – Temperaturverhältnisse , Abhandlungen des Meteorologischen Dienstes der DDR Nr. 103 (Band XIII), Akademie-Verlag, Berlin 1971

[4] European Climate Assessment & Dataset (ECA&D)

[5] Galle, J. G. (Hrsgb.): "Grundzüge der schlesischen Klimatologie", Breslau, 1857

[6] GHCN-Klimaarchiv

[7] Gronau, Karl Ludwig , in "Der Gesellschaft naturforschender Freunde zu Berlin Magazin für die neuesten Entdeckungen in der gesammten Naturkunde" (Berlin 1813), S. 243 - 249

[8] Littrow, Carl von: "Meteorologische Beobachtungen an der K. K. Sternwarte Wien von 1775 bis 1855", Band 3, Wien 1862

[9] Luterbacher, J., et al.: "Sea Level Pressure Reconstructions, Eastern North Atlantic and Europe", 2001, IGBP PAGES/World Data Center A for Paleoclimatology, Data Contribution Series #2001-086. NOAA/NGDC Paleoclimatology Program, Boulder CO, USA

[10] Luterbacher, J., et al.: "Reconstruction of Sea Level Pressure fields over the Eastern North Atlantic and Europe back to 1500", Clim. Dyn., 18 (2002), S. 545 - 561

[11] Meteorological Journal, in: "Philosophical Transactions of the Royal Society London", 1813, Vol. 103, S. 1 - 26

[12] NCEP/NCAR Reanalysis 1

[13] Stark, Augustin: "Meteorologische Beobachtungen - 1. Jahrgang 1812", Augsburg 1813

[14] CRU Time Series, University of East Anglia Climatic Research Unit (CRU)

[15] Larrey, Dominique-Jean: "Memoires de chirurgie militaire et campagnes", Tome 4, Paris 1817

[16] Arago, Francois: "Sämmtliche Werke", Band 8, Leipzig, 1860

[17] E. Wahlen: "Wahre Tagesmittel und tägl. Variation der Temperatur an 18 Stationen des russischen Reiches", St. Petersburg, 1886

[18] Kleefeld: "Meteorologische Beobachtungen angestellt zu Danzig in den Jahren 1807 bis 1830", in: "Neueste Schriften der Naturforschenden Gesellschaft in Danzig", Band 2, 1831

(Für die benutzten nicht-meteorologischen Quellen siehe Literaturverzeichnis der Hauptseite)





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Letzte Änderung der Seite: September 2018

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